Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
ein völlig angemessenes Taschentuch bei mir trug, nahm ich doch, was mir Mr. Nicholls entgegenstreckte, und versuchte, wieder Gewalt über meine Gefühle zu bekommen, während ich mir die tränennassen Augen betupfte.
»Sie ist also schwer krank?«, fragte Mr. Nicholls leise.
Ich nickte. »Als wir Emily verloren, dachte ich, dass wir nun den Becher des Leides bis zum Grunde geleert hätten, aber ich fürchte sehr, dass wir noch mehr Bitteres zu schmecken bekommen werden. Anne ist erst neunundzwanzig Jahre alt, Sir. Und doch ist sie schwächer und ausgemergelter als Emily in ihren letzten Tagen.«
»Das tut mir leid. Kann ich irgendetwas für Miss Anne tun, oder für Sie oder Ihren Vater? Irgendetwas?«
»Danke, Mr. Nicholls, aber wir machen schon alles, was nur menschenmöglich ist. Das ist unser einziger Trost, nehme ich an.«
Dann verabschiedete er sich. Aber zu meiner Überraschung kam er am nächsten Nachmittag zu uns zu Besuch.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Miss Anne«, sagte Mr. Nicholls, nachdem Martha ihn ins Esszimmer geführt hatte, wo Anne ruhte und ich zum Abendessen den Tisch deckte.
»Wirklich, Mr. Nicholls?«, antwortete Anne, die sich langsam von ihrem Sessel beim Kamin erhob.
»Bitte bleiben Sie doch sitzen.« Er eilte zu ihr hin. »Eines meiner Gemeindemitglieder hat mir erzählt, dass ›Gobold’s Vegetable Balsam‹ ein hervorragendes Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten ist, unter denen man nur leiden kann. Ich dachte mir, es könnte einen Versuch wert sein, und habe mir erlaubt, in Keighley welches für Sie zu besorgen, falls es von Nutzen sein könnte.« Er reichte ihr ein kleines Gefäß.
»Wie freundlich von Ihnen. Ich werde es gewiss einmal anwenden. Vielen Dank, Sir.« Mr. Nicholls verneigte sich und wollte gerade wieder gehen, als Anne hinzufügte: »Möchten Sie nicht zum Essen bei uns bleiben, Mr. Nicholls?«
»O nein – es würde mir nicht einfallen, mich in Ihre Familienmahlzeit hineinzudrängen.«
»Sie drängen sich doch nicht hinein, und es würde mir große Freude bereiten.«
Mr. Nicholls schien sich unbehaglich zu fühlen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass Mr. Nicholls in all den Jahren, die er nun schon neben uns wohnte, nur bei einer Handvoll von Gelegenheiten an unserem Tisch gesessen hatte, und das gewöhnlich, wenn sich irgendein Geistlicher zu Besuch in der Stadt aufhielt oder wenn er in Gesellschaft eines der anderen Hilfspfarrer aus der Umgegend hier war und er sich quasi selbst eingeladen hatte. Bei jedem dieser Anlässe war ich alles andere als freundlich zu ihm gewesen. Nun wandte ich mich mit einem Lächeln an ihn. »Bitte gesellen Sie sich zu uns, Mr. Nicholls. Wir würden uns sehr darüber freuen.«
Er schaute mich überrascht und dankbar an und verneigte sich erneut. »Danke, dann nehme ich gern an.«
Zunächst verlief die Mahlzeit, bei der Lammbraten und Rüben gereicht wurden, recht still. Ich machte einen Versuch, mit Papa und Mr. Nicholls ein Gespräch anzuknüpfen, aber Annes Mangel an Appetit und ihr häufiges, raues Husten erinnerten alle in der Tischgesellschaft ständig an ihren schwachen Gesundheitszustand.
»Papa, Charlotte, ich habe nachgedacht«, sagte Anne und legte ihre Gabel weg. »Ihr wisst doch, dass ich von Miss Outhwaite Geld geerbt habe?«
Ich nickte und erklärte Mr. Nicholls rasch: »Annes Patin ist letzten Monat verstorben. Sie hat Anne 200 Pfund vererbt.«
»Ich möchte einen Teil davon für eine Ferienreise ausgeben«, sagte Anne.
»Eine Ferienreise?«, fragte Papa überrascht.
»Ich möchte einige Wochen wegfahren. Ich habe gelesen, dass Luftveränderung oder eine Reise in ein besseres Klimabei Schwindsucht kaum jemals ihre heilsame Wirkung verfehlen, wenn man diese Maßnahmen zeitig ergreift.«
»Mein erster Impuls war auch, dich in ein wärmeres Klima zu entführen«, gestand ich ihr, »aber der Arzt hat es streng verboten. Er meinte, dass du auf keinen Fall reisen dürftest.«
»Er hat nur gesagt, dass ich das Haus erst wieder verlassen darf, wenn der Winter vorüber ist«, korrigierte mich Anne. »Und jetzt ist Frühling. Ich habe das Gefühl, dass ich keine Zeit mehr verlieren sollte.«
»Sie könnten an die Küste reisen«, schlug Mr. Nicholls vor. »Seeluft soll besonders heilsam sein.«
»Ja!«, rief Anne, und ihre Augen strahlten mit einer Begeisterung, die ich viele Monate nicht bei ihr gesehen hatte. »Oh, wie gern würde ich ans Meer reisen! Wenn ich nur Scarborough noch einmal sehen
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