Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
zu meiden.«
Hoffnung keimte in mir. Ich konnte wieder atmen. Konnte Anne doch gerettet werden? Oh, wenn das nur wahr wäre! »Sagen Sie uns ganz genau, was wir machen müssen. Herr Doktor. Wir begeben uns in Ihre Hände.«
Auf Mr. Teales Rat hin teilte ich mir nun nicht mehr das Bett mit Anne und zog statt dessen in Branwells altes Zimmer. Wir achteten sorgfältig darauf, dass die Temperatur in Annes Zimmer stets gleichbleibend war. Anne, die wusste, wie sehr wir darunter gelitten hatten, hilflos zusehen zu müssen, wie Emily jeglichen medizinischen Ratschlag und alle Behandlung ablehnte, war sehr geduldig in ihrer Krankheit und befolgte getreu alle Anweisungen des Arztes, solange sie konnte. Auf seinen Rat hin tat sie den ganzen Winter keinen Schritt aus dem Haus, obwohl das bedeutete, dass sie ihre geliebten Sonntagsgottesdienste in der Kirche nicht mehr besuchen konnte. Papa und ich beteten jeden Sonntagnachmittag zu Hause mit ihr, und Papa fasste für sie noch einmal die wichtigsten Aussagen seiner Predigt zusammen. Doch das Zugpflaster, das wir Anne auf Mr. Teales dringende Anweisung auf die Seiten aufbringen sollten, verursachte ihr nur Schmerzen, schaffte ihr jedoch keine Erleichterung. Unddie tägliche Dosis Lebertran, von dem Anne behauptete, er schmeckte und röche wie Lampenöl, bewirkte nur, dass es ihr so übel wurde, dass sie gar nichts mehr essen konnte. Wir mussten diese Behandlung schließlich abbrechen. Unser Arzt vor Ort empfahl dringend Hydrotherapie. Auch das versuchten wir, ohne allerdings bessere Ergebnisse zu erzielen.
Mit Mr. Smith’s Hilfe wurde eine zweite Meinung von dem bekannten Arzt des königlichen Haushaltes, dem besten Experten in ganz England für Schwindsucht, Dr. John Forbes, eingeholt. Zu meiner Enttäuschung antwortete Dr. Forbes zwar rasch und freundlich mit einem Brief, aber nur, um sein vollstes Vertrauen zu Mr. Teale zum Ausdruck zu bringen, die Ratschläge zu wiederholen, die wir bereits bekommen hatten, und mich zu warnen, ich möge besser keine zuversichtliche Hoffnung hegen, dass Anne ihre Gesundheit wiedererlangen würde.
Die Wintertage zogen so düster und schwer an uns vorüber wie ein Leichenzug. Jede neue Woche erinnerte uns daran, dass der gleiche Bote, der uns schon Emily so eilig entrissen hatte, nun bereits wieder seine üblen Machenschaften betrieb. Ende März war Annes bleiches Gesicht ausgemergelt und hohlwangig, ein Anblick, der zu schmerzhaft war, um ihn auch nur mit anzusehen oder gar zu beschreiben.
»Ich wünsche mir so sehr, dass es Gott gefallen möge, mich am Leben zu lassen«, sagte Anne eines Morgens, während sie traurig aus dem Fenster auf eine Schar Vögel blickte, die sich hoch über den Kirchturm erhoben, »nicht nur um deinetwillen, Charlotte, und um Papas willen, sondern weil ich mich so sehr danach sehne, etwas Gutes auf Erden zu tun, ehe ich diese Welt verlasse. Ich habe noch so viele Pläne im Kopf – für Geschichten und Bücher, die ich gern schreiben würde. Wie bescheiden und begrenzt diese Pläne auch sein mögen,ich möchte doch nicht, dass sie alle zunichte werden, und ich selbst habe so wenig in meinem Leben erreicht.«
»Du hast sehr viel in deinem Leben erreicht«, sagte ich und kämpfte mit den Tränen, während ich ihr mit tiefster Zuneigung die Hand drückte. »Und du wirst gesund werden. Du bist zu kostbar für uns, als dass wir dich kampflos aufgeben würden.«
In den sechs Monaten seit meinem Heidespaziergang mit Mr. Nicholls war so viel Tod und grausame Krankheit über unseren Haushalt hereingebrochen, dass er und ich kaum mehr als nur einige wenige eilige Sätze hier und da miteinander gewechselt hatten. Am letzten Sonntag im März kam Mr. Nicholls jedoch nach dem Gottesdienst mit entschlossenen Schritten auf mich zu, um sich nach Anne zu erkundigen.
»Ihr Vater hat mir regelmäßig Bericht erstattet, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben sollte. Ich wollte von
Ihnen
hören, wie es ihr geht.«
Ich machte den Mund auf, um ihm zu antworten, und brach plötzlich und ohne ersichtlichen Grund in Tränen aus. Mr. Nicholls stand stumm und ernst vor mir, und seine Miene drückte tiefes Mitgefühl und Sorge aus. Er zog ein Taschentuch hervor und bot es mir an. Kurz schoss mir die Erinnerung an einen anderen Mann durch den Kopf, der mir vor Jahren in Brüssel in Zeiten der Trauer ebenfalls sein Taschentuch angeboten hatte. Wie mein Leben sich seit den Jahren in Belgien verändert hatte! Obwohl ich selbst
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