Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
mich nicht vor dem Sterben.« Zwischen schweren Atemzügen brachte sie hervor: »Erinnerst du dich, Charlotte, dass ich dir, ehe wir hierhergekommen sind, erzählt habe, wie sehr es dir hier in Scarborough gefallen würde? Und dass ich dir seine vielen Herrlichkeiten beschrieben habe? Ich habe für dich ein Bild von dieser Unterkunft entworfen und dir von der wundervollenAussicht erzählt. Du musstest damals meinen Worten Glauben schenken, denn du hattest ja all dies noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber es ist doch genauso, wie ich es dir beschrieben habe?«
»Ja«, antwortete ich mit brechender Stimme.
»So wird es auch mit dem himmlischen Königreich sein. Wir müssen einfach an seine Herrlichkeit glauben und dankbar sein, dass wir von den Leiden dieses Lebens befreit werden. Und wir müssen Gott vertrauen, dass uns ein besseres Leben erwartet.«
Wenn ich vorher nicht an ein Leben nach dem Tod geglaubt hätte, als ich nun in das strahlende und ruhige Antlitz meiner Schwester blickte und diese beinahe heiter gelassenen Worte aus ihrem Munde vernahm, hätte ich es gewiss getan.
Zu Ellen sagte sie: »Sei du an meiner Statt eine Schwester für Charlotte. Leiste ihr so oft Gesellschaft, wie du nur kannst.«
»Das werde ich tun«, versprach Ellen mit tränenerstickter Stimme.
Ich nahm Annes Hand in die meine, zitternd in dem Bemühen, meine Trauer zu beherrschen. »Ich liebe dich, Anne.«
»Ich liebe ich auch. Nur Mut, Charlotte. Nur Mut«, waren Annes letzte geflüsterte Worte.
Hätte mir ein Jahr zuvor jemand vorhergesagt, wie viel Leid ich in den nächsten Monaten zu ertragen haben würde, hätte er mir prophezeit, wie es um mich im Juni 1849 stehen würde – dass ich aller Freude beraubt und in Trauer versunken sein würde –, so hätte ich gedacht: Das kann ich niemals ertragen. Alle waren sie von mir gegangen: Branwell, Emily und Anne, alle waren sie innerhalb von nur achtzehn Monaten verschwunden wie Träume, verschwunden wie Maria und Elizabeth vor über zwanzig Jahren. Warum jüngere und bessereSeelen als ich aus diesem Leben gerissen wurden, während Gott mich in Seinem Ratschluss verschont hatte, vermochte ich nicht zu begreifen. Aber ich glaubte fest daran, dass Gott weise, vollkommen und gnädig ist. Ich gelobte, stark zu bleiben und mich als Seiner Gaben würdig zu erweisen.
Um Papa den Kummer zu ersparen, ein weiteres Kind begraben zu müssen, beerdigten wir Anne in Scarborough auf dem Friedhof von St. Mary’s hoch über der Stadt. Obwohl ich traurig war, dass sie ihre letzte Ruhe nicht bei all den anderen in unserer Familiengruft gefunden hatte, tröstete es mich doch, dass Anne an ihrem Lieblingsort bestattet war, mit dem Blick auf die wilde See, die sie so liebte.
Als ich nach Haworth zurückkehrte, empfingen mich Papa und die Bediensteten mit einer so warmen Zuneigung, dass es mich hätte trösten müssen, aber für einen solchen Schmerz, wie ich ihn empfand, gibt es wohl keinen Trost. Die Hunde begrüßten mich seltsam erregt. Ich bin sicher, sie hielten mich für die Vorbotin meiner Schwestern. Sie dachten, da ich zurückgekommen war, würden auch die anderen, die so lange schon abwesend waren, sicherlich bald folgen. Mr. Nicholls übernahm viele zusätzliche Aufgaben in der Gemeinde, um meinem trauernden und rasch alternden Vater unter die Arme zu greifen, und er drückte mir sein Beileid aus. Aber ich war zu tief in meinem Elend versunken, als dass ich zu mehr in der Lage gewesen wäre, als seinen Versuch, mich zu trösten, zur Kenntnis zu nehmen.
Oh, wie ruhig es im Pfarrhaus war! Die Zimmer, die einst so voller Aufregung und Leben gewesen waren, hallten nun leer und still wider. Das einzige Geräusch war den lieben langen Tag das Ticken der Uhr. Wenn ich mich ins Freie wagte, war mir das weithin erschallende Klopfen des Steinmetzes, der endlose Reihen von Grabsteinen für die Gemeinde Haworthmit Namen zierte, eine so schmerzliche Erinnerung an meine eigene Trauer, dass ich sofort wieder ins Haus eilte. Ich kam mir vor wie eine Gefangene in Einzelhaft, die ständig nur auf eine Kirche und einen finsteren Friedhof schauen konnte. Ich begann mich nach anderer Gesellschaft zu sehnen, doch gleichzeitig bezweifelte ich, ob es mir gelingen würde, anderen Menschen mit meiner Gegenwart Vergnügen zu bereiten oder selbst Vergnügen daraus zu ziehen. Eine ganze Woche lang war ich außerstande, irgendeine nützliche Arbeit zu verrichten, und schaffte es nicht, meine Feder für eine
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