Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
anspruchsvollere Aufgabe zur Hand zu nehmen, als ein paar Zeilen an eine mitfühlende Freundin zu schreiben.
Schließlich kam ich nach langen inneren Kämpfen wieder zu Kräften. Es war an einem grauen Junimorgen. Mein erster Gedanke beim Erwachen war eine düstere Wiederholung der harschen Worte, die mich die ganze Woche über geplagt hatten: Deine Jugend ist vorüber. Du wirst niemals heiraten. Die beiden Menschen, die dich verstanden haben und die du verstanden hast, sind von dir gegangen. Einsamkeit und Erinnerung und Sehnsucht werden nun den lieben langen Tag deine einzigen Weggefährten sein. Abends wirst du mit ihnen zu Bett gehen, sie werden dich am Schlafen hindern, und morgens wirst du wieder mit ihnen aufwachen, jeden Tag, für den Rest deines Lebens.
Ich gab mich noch einige tränenvolle Augenblicke dem Selbstmitleid hin, als sich plötzlich eine neue Stimme kraftvoll erhob, eine süße, reine Stimme, die Stimme eines Engels, die (dachte ich) wie Annes Stimme klang: »Einsam Trauernde, dies sind wahrhaft finstere Tage, aber Tausende leiden mehr als du. Ja, du bist einsam, aber du bist nicht allein. Ja, du hast die meisten deiner Lieben verloren, aber du hast auch noch einen nahen Verwandten, der dir lieb und teuer ist. Ja, du lebstin einer abgelegenen Gemeinde mitten im Moorland, aber du bist keine verzweifelte alte Jungfer ohne Hoffnung und ohne eine Lebensaufgabe. Du bist auch nicht wie der Rabe, der mit traurigem Blick über die Sintflut schaut und keine Arche findet, zu der er zurückkehren kann. Nein, du hast noch Hoffnung! Du hast noch eine Lebensaufgabe! Arbeit muss deine Heilung sein, nicht Mitleid! Arbeit ist die einzige wirksame Arznei gegen tiefen Schmerz!«
Ich setzte mich mit pochendem Herzen im Bett auf, warf die Decke zurück und trocknete mir die Tränen. Mein neuer Weg lag mir nun klar vor Augen. Um meinen Kummer und meine Einsamkeit zu lindern, musste ich mich wieder ans Schreiben machen.
Mein Roman
Shirley
war beinahe zu zwei Dritteln vollendet gewesen, als mein Bruder starb und meine Schwestern erkrankten. Ich hatte ihn seither kaum angeschaut. Nun kam ich nur sehr schwer voran, als ich in der ungewohnten Einsamkeit zu schreiben versuchte. Es schien mir ein nutzloses Unterfangen, etwas zu erfinden, da doch Ellis und Acton Bell nicht mehr da waren, um es zu lesen. Ich vermisste die verständnisvolle, neckende Unterstützung dieser verwandten Seelen so sehr. Und zunächst war mir, als schwände das ganze Buch und mit ihm alle Hoffnung, die ich darein gesetzt hatte, in eitler Nichtigkeit und Verdruss.
Schließlich wurde mir jedoch das Schreiben zum Segen. Es geleitete mich aus der dunklen und verzweifelten Wirklichkeit in unwirkliche, aber glücklichere Gefilde. Ich konnte meine Gefühle aufs Papier strömen lassen, mit Worten, die geradewegs aus dem Schmerz in den tiefsten Tiefen meines wunden Herzens kamen. Aber ich konnte mit meinen Geschöpfen milder umgehen, als Gott es mit mir getan hatte. Ich konntemeine erfundene Caroline an einem Fieber erkranken lassen, sie ins Schattenreich geleiten, ja, bis an die Schwelle des Todes – wie der mächtige Dschinn Tallii 1 meiner Kindheit – und sie dann doch wieder gesund werden lassen, ihr einen lang verloren geglaubten und herbeigesehnten Verwandten schicken und ihr die Ehe mit dem Mann erlauben, den sie liebte.
Man kann nichts von bleibendem Wert schreiben, wenn man sich nicht ganz seinem Thema hingibt. Doch wenn man dies tut, verliert man jeglichen Appetit, und es raubt einem den Schlaf – daran kann man nichts ändern, und so ging es auch mir mit
Shirley
. Ich gab mir ungeheure Mühe mit diesem Roman und stellte ihn Ende August 1849 fertig. Das Buch wurde in Windeseile gedruckt und erschien Ende Oktober. Zum größten Teil wurde es von den Kritikern und den Lesern freundlich aufgenommen, wenn auch nicht mit dem gleichen Lob wie
Jane Eyre
. Es schien, als würden diejenigen, die sich abfällig über
Jane Eyre
geäußert hatten,
Shirle y
ein wenig lieber mögen als den vorangegangenen Roman, während diejenigen, die von
Jane Eyre
begeistert gewesen waren, ironischerweise (trotz der strengen Ermahnung gewisser Kritiker, in Zukunft das Melodramatische zu meiden) nun enttäuscht waren, dass sie in diesem Buch nicht das gleiche Maß an Spannung und Anregung vorfanden. Ich hatte jedoch nicht vorhergesehen, wie dieses neue Buch mein Leben ändern würde.
Shirley
beraubte mich ein für alle Mal des kostbaren Schutzes meiner
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