Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Anonymität.
Als ich
Jane Eyre
schrieb, hatte ich zwar die Lowood School und ihre Lehrerinnen und Schülerinnen an wahre Begebenheiten angelehnt, aber all das war vor so langer Zeit geschehen, dass man keine Verbindung zum Leben des Autors zog. Mein neues Buch sollte all das ändern.
Shirley
spielte in der Vergangenheit, vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Unruhen während der Weberaufstände der Ludditen im West Riding von Yorkshire in den Jahren 1811–1812. Ich hatte jedoch viele der handelnden Personen Menschen nachgebildet, die beinahe alle in den eng verbundenen Gemeinden von Birstall, Gomersal und den Gemeinden unserer eigenen unmittelbaren Umgebung lebten. Vielleicht war es naiv von mir, aber ich hegte keinerlei Bedenken, man könne meine Identität entdecken. Ich war so unbekannt, dass ich es für unvorstellbar hielt, man könnte mich mit diesem Roman in Verbindung bringen. Dass irgendjemand die stille, unverheiratete Pastorentochter aus Haworth verdächtigen könnte, einen Roman geschrieben zu haben, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Wie sehr hatte ich mich da geirrt!
Die Enthüllung meines Geheimnisses begann sehr unspektakulär. Gelegentlich waren die Briefe, die ich von Smith & Elder erhielt, unversiegelt, wenn sie mir zugestellt wurden. Man hatte sie, vermutete ich, im Postamt von Keighley geöffnet, um sie zu inspizieren. Joe Taylor, den ich während des Verfassens von
Shirley
oft um Rat gefragt hatte, hatte bereits so vielen Menschen in Gomersal erzählt, ich sei die Autorin des Buches, dass ich, als ich Ellen dort besuchte, von Menschen aus dem gesamten Bezirk mit völlig neuer Ehrerbietung und gesteigerter Freundlichkeit empfangen wurde.
Der Kritiker Mr. George Lewes, der von einer meiner früheren Schulkameradinnen gehört hatte, sie hätte in der Schuleaus
Jane Eyre
die Schule für Pastorentöchter wiedererkannt und Currer Bell müsse Charlotte Brontë sein, verkündete nun, die Autorin des Romans
Shirley
sei eine unverheiratete Pastorentochter, die in Yorkshire lebte! Diese Nachricht verbreitete sich in den Londoner Zeitungen wie ein Lauffeuer. Mr. Smith versicherte mir, es sei am besten, nun Feuer mit Feuer zu bekämpfen, und so fuhr ich im Dezember 1849 nach London. Ich wohnte bei ihm und seiner Mutter, wo man mich bei einem Abendessen förmlich den literarischen Rhadamanthi 2 vorstellte: den fünf höchstgeachteten und meistgefürchteten Kritikern in der Welt der Literatur. Obwohl ich zunächst beim bloßen Gedanken erbebt war, diese großen Männer kennenzulernen, stellte ich doch fest, dass sie außerordentlich höflich waren, wenn man sie von Angesicht zu Angesicht erlebte. Und als ich auch an ihnen kleine Fehler entdeckte und feststellte, dass sie gewöhnliche Sterbliche waren, verlor ich meine Ehrfurcht vor ihnen.
Mr. Nicholls war einer der Ersten in Haworth, der von meiner Urheberschaft erfuhr. Es war an einem strahlend kalten Januartag kurz nach dem Beginn des neuen Jahrzehnts. Eine Erkältung hatte mich seit meiner Rückkehr aus London im Haus festgehalten. Nun hatte ich mich erholt und nutzte, mit Umhang, Hut und Muff gegen die Kälte eingemummelt, eine kleine Atempause im unwirtlichen Winterwetter, um auf einem gut ausgetretenen Pfad über den verschneiten Friedhof zu spazieren, wo sonst keine Seele zu sehen war. Nach einigen Minuten hörte ich jedoch hinter mir im Schnee Schritte knirschen. Mr. Nicholls näherte sich und blieb vor mir stehen, dieHände in den Manteltaschen, die Wangen von der Kälte gerötet, und mit seltsamer, halb lächelnder, halb verwirrter Miene.
»Miss Brontë.«
»Mr. Nicholls.«
Er schaute zu mir, dann wieder fort, dann wieder zu mir, und in seinem Blick lagen zu gleichen Teilen Ehrfurcht, Schüchternheit und verdutzte Ungläubigkeit. »Ich hatte gehofft, Sie zu sehen. Ich wollte Ihnen gratulieren. Ich habe von Ihrem Vater die erstaunlichsten Neuigkeiten erfahren – dass Sie zwei Bücher veröffentlicht haben!«
»Papa hat es Ihnen gesagt? Ich werde mit ihm schimpfen müssen, Mr. Nicholls. Das war sehr ungezogen von ihm. Es sollte ein Geheimnis bleiben.«
»Warum sollte man eine solche Errungenschaft geheim halten, Miss Brontë? Zwei Bücher! Sie sollten sehr stolz darauf sein. Sobald er es mir erzählt hat, habe ich mir sofort ein Exemplar von
Jane Eyre
besorgt.«
Ich verspürte ein seltsames Beben in der Magengrube. »Haben Sie es gelesen?«
»Ich habe es beinahe ohne Pause gelesen. Ich konnte es einfach nicht aus der
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