Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
erholt sich bald.«
»Danke.« Nun senkte sich ein unbehagliches Schweigen über die Gesellschaft. »Mr. Nicholls, ich hoffe, Sie finden Freude an Ihrer neuen Anstellung?«
»Ja, vielen Dank.«
»Ist es nicht wunderbar«, merkte Mrs. Grant an, währendsie an ihrer Teetasse nippte, »dass Mr. Nicholls eine Stelle gefunden hat, die so in der Nähe liegt?«
»Allerdings«, antwortete ich, obwohl meiner Meinung nach fünfzig Meilen eine sehr weite Entfernung darstellten.
Wieder herrschte Schweigen. Da platzte Mr. Nicholls heraus: »Ich habe
Villette
gelesen.«
»Wirklich?«
Villette
war vor acht Monaten erschienen. Die Tatsache, dass Mr. Nicholls nie die Gelegenheit gefunden hatte, es zu erwähnen – wenn man bedachte, dass er
Jane Eyre
und
Shirley
jeweils in zwei Tagen gelesen hatte, unmittelbar nachdem er die Bücher erhalten hatte –, erinnerte mich nur noch einmal schmerzlich daran, welche Kluft sich zwischen uns aufgetan hatte.
»Es hat mir großartig gefallen. Die Schule war wunderbar beschrieben«, sagte Mr. Nicholls mit einer Spur seiner einstigen Begeisterung. »Das Land – Sie haben ihm einen anderen Namen gegeben – sollte wohl Belgien sein?«
Aus unerfindlichen Gründen errötete ich. »Ja.«
»Das Ende hat mich ein wenig verwirrt. Was haben Sie gemeint …« Hier unterbrach er sich und wandte sich an Mr. und Mrs. Grant: »Kennen Sie Miss Brontës neuen Roman schon?«
»Leider nicht«, gestand Mrs. Grant.
»Ich habe nicht viel für Romane übrig«, wandte Mr. Grant mit gerunzelter Stirn ein. »Aber sagen Sie mal, Nicholls, wie ist es mit dem Angeln in Kirk Smeaton? Haben Sie Glück mit den Forellen gehabt?«
Es folgte eine lange Diskussion über das Angeln, und dann fragte Mr. Grant: »Sind die Dissenter in Kirk Smeaton auch so lautstark wie in unserer Gemeinde?«
»O ja«, antwortete Mr. Nicholls. »Letzte Woche musste ich eine volle halbe Stunde damit verbringen, mich mit einemHerrn über die Vorzüge der Amtskirche zu unterhalten und die Pflichtabgaben an die Kirche zu verteidigen.«
»Wo wird das alles nur enden?«, rief Mr. Grant kopfschüttelnd. »Meine Damen, haben Sie schon gehört, dass man tatsächlich darüber nachdenkt, auch Nicht-Anglikaner an den Universitäten zuzulassen?«
»Entsetzlich!«, sagte Mr. Nicholls.
»Was könnte denn ein Dissenter, um Himmels willen, von einer Universität profitieren?«, fragte Mr. Grant. »Ohne gründliche Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen würde er es keine zwei Tage dort aushalten.«
Alle außer mir lachten. Von einem Augenblick zum nächsten war mir die Freude am Gespräch vergangen. Die Unterhaltung plätscherte noch eine Stunde oder länger dahin. Mr. und Mrs. Grant machten keine Anstalten, den Raum zu verlassen, und da es immer noch in Strömen regnete, gab es für Mr. Nicholls und mich auch keine Gelegenheit, draußen einen Spaziergang zu unternehmen oder auch nur einen einzigen Augenblick lang unter vier Augen zu sprechen. Schließlich sagte ich Lebewohl, und in mir war noch dieselbe Ungewissheit über meine Gefühle für Mr. Nicholls wie zum Zeitpunkt meiner Ankunft. In meiner Besorgnis, dass unsere Begegnung unentdeckt bleiben musste, erlaubte ich Mr. Nicholls nur, mich bis zum Gartentor zu begleiten, das zu dem steingepflasterten Weg führte, auf dem ich nach Haworth zurückkehren würde.
»Ich kann leider einige Monate nicht mehr herkommen, da ich meine Aufgaben gerade erst übernommen habe«, erklärte Mr. Nicholls bedauernd, und seine Stimme wurde beinahe vom lauten Prasseln des Regens auf unseren Schirmen übertönt.
»Das tut mir leid, Sir.«
»Erweisen Sie mir die Ehre und gestatten Sie mir, Ihnen weiterhin zu schreiben, Miss Brontë?«
»Ja, das gestatte ich Ihnen.« (Inzwischen waren meine Schuhe wirklich sehr nass.) »Es war schön, Sie zu sehen, Sir.«
»Und Sie, Miss Brontë. Auf Wiedersehen.«
Am 19. September kam mich Mrs. Gaskell besuchen. Es war ihr erster Aufenthalt in Haworth. Vier Tage lang schüttete ich dieser guten, klugen Dame mein Herz aus und vertraute ihr alles an, was geschehen war, die ganze Verwirrung meiner Gedanken und Gefühle.
»Wie hartherzig Ihr Vater ist!«, rief Mrs. Gaskell an unserem zweiten Nachmittag aus, als wir durch die Heide spazierten, die nun zum Grün und Braun des Frühherbstes verblasst war. »Wie kann er etwas gegen Mr. Nicholls’ Beruf haben, wo er doch selbst Geistlicher ist? Und wie Sie sagen, hat sich ja Mr. Nicholls hervorragend bewährt. Er war acht
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