Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
ohne bleibenden Schaden überstehen.«
»Du sprichst im Scherz, aber ich meine es ernst. Du hast gesagt, du würdest niemals heiraten, Charlotte. ›Wir werden zusammen alte Jungfern sein und glücklich und zufrieden allein leben.‹ Das hast du gesagt.«
Ich starrte sie an. »Dein Haupteinwand hat also gar nichts mit dem Mann selbst zu tun, sondern mit dem Gedanken, dass ich überhaupt heirate?«
»Es stünde doch im Widerspruch zu deinem ganzen Wesen, wenn du jetzt heiraten würdest.«
»Widerspruch? Warum würde es dazu im Widerspruch stehen, Ellen? Als du vor all den Jahren über Mr. Vincents Antrag nachdachtest, habe ich dir dringend geraten, ihn anzunehmen. Ich wollte, dass du glücklich würdest, wenn du meintest, dein Glück mit ihm zu finden. Und doch gönnst du mir das gleiche nicht!«
»Du hast doch Mr. Nicholls’ Antrag abgelehnt, nicht ich! Willst du jetzt etwa sagen, du wünschtest, du hättest ihn angenommen?«
»Nein! Ich weiß selbst nicht, was ich will. Aber …«
»Ich versuche nur, dich darin zu bestärken, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du jetzt heiraten würdest, Charlotte. Ich würde dichdanach kaum noch zu sehen bekommen. Wenn wir schon alte Jungfern sein müssen, so wollen wir unser Los gemeinsam erdulden, und zwar bis zum Ende.«
»Erdulden? Oh, das ist wirklich zu viel, Ellen! Ich dachte, du wärst meine Freundin. Und doch möchtest du mich zu ewiger Ehelosigkeit verdammen, nur damit du mich weiterhin jederzeit besuchen kannst? Das ist unerträglich. Du bist auch nicht viel besser als mein Vater!«
Der Streit zwischen uns wurde so heftig, dass Ellen am nächsten Morgen abreiste, eine ganze Woche früher als beabsichtigt, und wir eine Zeitlang keine Briefe mehr wechselten.
Unglücklich und der Gesellschaft meines Vaters überdrüssig, überließ ich Papa der Obhut von Martha und Tabby und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, mein Zuhause zu verlassen. Im August fuhr ich mit Joe Taylor und seiner Frau nach Schottland, doch diese Reise musste wegen der Krankheit ihres Kindes vorzeitig abgebrochen werden, und wir landeten stattdessen im nahegelegenen Badeort Ilkley. Ich kehrte später noch einmal nach Ilkley zurück, um mich dort für einige Tage mit Miss Wooler zu treffen. Trotz des Altersunterschiedes hatten wir unsere Freundschaft aufrechterhalten, die ich sehr hoch schätzte.
Ich tauschte weiterhin mit Mr. Nicholls Briefe. Inzwischen war er Hilfspfarrer bei Reverend Thomas Cator in Kirk Smeaton, das etwa fünfzig Meilen von Haworth entfernt bei Pontefract und ebenfalls im West Riding von Yorkshire liegt. Anfang September bat er um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete, das könnte er gerne, bestand aber – obwohl ich mich bei dieser Täuschung ganz elend fühlte – darauf, diesen Besuch vor Papa geheim zu halten.
Da wir nicht wollten, dass die wachen Augen und Ohren in der Nachbarschaft unsere Begegnung bemerkten, beschlossenwir, uns im Pfarrhaus von Oxenhope zu treffen, wo Mr. Nicholls bei den Grants wohnen würde (Mr. Grant hatte nämlich trotz seinem vor vielen Jahren geäußerten Mangel an Interesse für das schöne Geschlecht vor sechs Jahren eine wunderbare Frau geheiratet, Sarah Anne Turner, mit der er sehr glücklich zu sein schien).
Am vereinbarten Tag regnete es heftig. Als ich im Pfarrhaus von Oxenhope eintraf (voller Schuldgefühle, weil ich Papa belogen hatte, und nach meinem langen Spaziergang nass bis auf die Haut), nahm mir die Haushälterin freundlicherweise Umhang, Haube, Handschuhe und Schirm ab und führte mich in den Salon, wo Mr. Nicholls und Mr. und Mrs. Grant sofort aufsprangen, um mich zu begrüßen. Der Blick in Mr. Nicholls’ Augen war so voller aufgeregter Besorgnis, dass er in mir damit eine ähnliche Verängstigung hervorrief. Wir tauschten einige Begrüßungsworte. Mr. Nicholls entschuldigte sich vielmals, dass ich den Weg bei so schlechtem Wetter hatte zurücklegen müssen. Ich wurde sogleich zu einem Sessel beim Kamin geführt, wo ich mich am lodernden Feuer aufwärmen konnte. Ein Hausmädchen brachte Tee und Erfrischungen.
Mr. Nicholls erkundigte sich nach meiner Gesundheit und der meines Vaters. Ich erwähnte kurz Papas Schlaganfall und seine schleppende Genesung, was ihn zu bestürzen schien. »Es geht ihm jetzt viel besser«, versicherte ich zu seiner Beruhigung, »aber ich fürchte, er wird nie wieder so gut sehen wie zuvor.«
»Das tut mir leid. Ich hoffe, er
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