Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Lehrmeinung wäre das?«, erkundigte sich Branwell, der zu Papas Bedauern und Beschämung seit Jahren keine Bibel mehr aufgeschlagen, geschweige denn eine Kirche besucht hatte.
»Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung«, zitierte Mr. Nicholls. »Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still. Denn Adam wurde zuerst gemacht, danach Eva.« 2
Emily stöhnte laut auf und warf ihre Serviette auf den Tisch. »Sir, was die Bibel betrifft, gestehen Sie da sowohl Männern als auch Frauen das Recht zu, sich eine eigene Meinung zu bilden?«
»Ja«, erwiderte Mr. Nicholls.
»Damit bin ich nicht einverstanden«, sagte Mr. Grant. »Frauen sollten die Meinungen ihres Gatten übernehmen, sowohl in der Politik wie auch in der Religion.«
»Schämen sollten Sie sich, Sir, über eine so dumme Bemerkung!«, rief Emily.
»Mit dem gleichen Recht könnten Sie sagen, dass alle Männer die Meinungen ihrer Pfarrer übernehmen sollten, ohne sie zu überprüfen!«, fügte ich hinzu.
»Das sollten sie auch!«, stimmte Mr. Nicholls zu.
»Welchen Wert hätte eine so übernommene Religion?«, rief ich entsetzt. »Der Vernunft muss doch gestattet werden, die theologische Interpretation und Urteilsbildung zu beeinflussen. Sonst ist dieser Glaube nichts als blinder, verblendeter Aberglaube! Sind Sie zufällig ein Anhänger von Pusey, Mr. Nicholls?«
»Ja, ich bin ein starker Befürworter der Prinzipien von Reverend Dr. Edward Pusey und den anderen Begründern der Oxford-Bewegung«, antwortete Mr. Nicholls stolz.
»Nun, ich bin eine Anhängerin des Latitudinarismus 3 «, sagte ich und musste mir große Mühe geben, nicht die Fassung zu verlieren, »und ich habe starke Einwände gegen die Lehre des Dr. Pusey und gegen jedes einzelne Wort seines
Traktats für die Zeiten
. Ich finde, dass seine starren Prinzipien gefährlich nah an den Lehren der römisch-katholischen Kirche sind, und ich habe die meisten seiner Anhänger als intolerante Menschen kennengelernt, die sich gegenüber protestantischen Sekten,die ihre Meinung nicht teilen, äußerst abfällig äußern. Aber davon einmal abgesehen, habe ich die Passage aus der Bibel, die Sie soeben zitiert haben, im griechischen Urtext gelesen und dabei festgestellt, dass viele der Wörter falsch übersetzt wurden.«
»Falsch übersetzt?«
»Ja, mit einigen winzigen Änderungen könnte man die Passage so interpretieren, dass sie etwas völlig anderes aussagt: dass eine Frau offen sprechen sollte und muss, wenn sie meint, einen Einwand vorbringen zu müssen; dass man ihr freizügig erlauben sollte, zu lehren und die Autorität über den Mann auszuüben, und dass der Mann still bleiben solle.«
Die Männer rings um den Tisch prusteten los. »Sie sehen, meine Herren«, erklärte Papa, »mit was ich in meinem eigenen Haushalt zu tun habe? Seit ihren Kindertagen fordern Charlotte und Emily mich zu jedem einzelnen ähnlichen Abschnitt der Bibel zur Auseinandersetzung heraus. Nur Anne, meine liebe, süße Anne nimmt diese Aussagen fraglos und mit Würde hin. Meine Töchter haben mich jedoch alle dazu überredet, sie Fächer studieren zu lassen, die man besser allein den Männern überließe. Und da saßen sie nun an genau diesem Tisch all die Jahre ihrer Kindheit hindurch über die staubigen Seiten der griechischen und römischen Literatur gebeugt, übersetzten ganze Werke aus dem Lateinischen, wühlten sich durch die komplexen Verästelungen schwieriger mathematischer Probleme, bis sie sich selbst weit über das Niveau jedes Mannes zwischen hier und York gebildet hatten.«
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie mit all dem Wissen anfangen wollen«, sagte Mr. Grant, »wenn sie Brot backen oder die Betten machen.«
Wieder lachten alle Männer. Innerlich schäumte ich vor Wut. Nun kam Martha mit einer Fruchttorte herein.
Emily stand auf und sagte: »Mir ist der Appetit auf dieses Gespräch und auf das Dessert vergangen.«
»Wenn Sie uns bitte entschuldigen«, fügte Anne hinzu, die sich gleichfalls erhob. Beide verließen rasch das Zimmer. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, mich ihnen anzuschließen, aber, nach dem vorherrschenden Ton des Abends zu schließen, fürchtete ich, dass der weibliche Teil der Menschheit sehr leiden würde, wenn sich keine Frauenstimme zu seiner Verteidigung erheben würde, und so blieb ich. Nachdem Martha Kaffee und Dessert gereicht hatte und wieder gegangen war, wechselte
Weitere Kostenlose Bücher