Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Branwell zum Glück das Thema, in dem er voller Stolz die kürzlich erfolgte Veröffentlichung seiner Gedichte verkündete. Es erhob sich daraufhin eine Debatte über den Wert der Lyrik, wobei sich Branwell, Papa und ich als ihre Befürworter und Mr. Nicholls und Mr. Grant als ihre Gegner herausstellten.
»Lyrik ist eine ziemlich nutzlose Betätigung«, versicherte Mr. Nicholls, »besteht aus nichts als vielen blumigen Worten, die beeindrucken sollen und doch nur zur Verwirrung und Verärgerung beitragen.«
»Wie können Sie so etwas sagen!«, rief ich mit aufwallender Leidenschaft. »Uns wird in dieser Welt bereits notgedrungen genug harte Sachlichkeit und nützliches Wissen aufgezwungen. Da brauchen wir etwas Schönes und Künstlerisches, das unsere Gedanken ein wenig weicher stimmt und verfeinert. Lyrik ist ein Mittel zu diesem Zwecke. Lyrik ist mehr als nützlich, Sir, sie ist eine Wonne. Sie erhebt uns, sie begeistert uns, sie kann aus einem groben Stoff etwas beinahe Göttliches schaffen.«
Mr. Nicholls schaute mich an, als überraschte ihn die Heftigkeit meiner Äußerung, dann senkte er die Augen und sagte: »Ich freue mich, dass Sie das so sehen, Miss Brontë. Vielleichthabe ich das nie richtig verstanden. Ich habe mich beim Studium von Gedichten immer schwergetan.«
»Da wir gerade von Lyrik sprechen«, fuhr Mr. Grant mit einem Mund voller Früchtekuchen dazwischen, »da habe ich gestern eine Nachricht bekommen, Nicholls, die mit allerlei gereimtem Unsinn angefüllt war, und zwar von einer der jungen Damen aus meiner Gemeinde, einer gewissen Miss Stokes.«
»Mögen Sie sie?«, erkundigte sich Mr. Nicholls.
»Das kann ich nicht sagen.« Mr. Grant hielt mir quer über den Tisch seinen inzwischen geleerten Teller hin und zog stumm die Augenbrauen in die Höhe, was wohl einer Bitte um eine weitere Portion gleichkam. Ich erfüllte meine Pflicht und setzte mich wieder hin. »Sie ist das hübscheste Mädchen in ihrer Familie«, fuhr Mr. Grant fort. »Es sind ihrer fünf, alle unverheiratet – und alle haben ein Auge auf mich geworfen. Ich muss feststellen, dass seit meinem ersten Tag in Oxenhope sämtliche Damen in der näheren und weiteren Umgebung hinter mir her sind. Es gehen ständig Gerüchte um, ich würde Miss Soundso oder Miss Sonstwer heiraten. Gott weiß, auf welchen Tatsachen dieses Gerede fußt. Ich bemühe mich etwa so sehr um weibliche Gesellschaft wie unser guter Mr. Nicholls hier.«
»Sie blicken nur so hochmütig auf die Liebe herab«, wandte Branwell ein, der an seinem Kaffee nippte, »weil Sie sie noch nie gefühlt haben.«
Ich schaute zu Branwell und wunderte mich im Stillen über seine Worte. Er war, soweit ich es wusste, auch noch nie zuvor verliebt gewesen.
»Selbst wenn ich sie gefühlt hätte, würde ich mich von ihr nicht beeinflussen lassen«, behauptete Mr. Grant.
»Sie sind ein weiser Mann, Sir«, bemerkte Papa. »Es ist gewiss der beste Plan, unverheiratet zu bleiben. Millionen vonEhen sind unglücklich; wenn jedermann die Wahrheit eingestehen würde, sind es vielleicht alle, mehr oder weniger.«
»Aber Mama und du, ihr wart doch glücklich miteinander, oder nicht, Papa?«, fragte ich.
»Es gibt zu jeder Regel Ausnahmen«, antwortete Papa. »Deine Mutter war eine ganz besondere und seltene Frau, und was wir füreinander empfunden haben, war genauso selten. Die meisten Menschen werden einander nach einem Monat überdrüssig und sind danach nur noch unter einem Joch zusammengespannt.«
»Eine Ehe kann, denke ich, eine sehr vorteilhafte Verbindung sein«, wandte Mr. Nicholls ein, »wenn sie so geschlossen wird, dass man die Ansichten des anderen würdigt und dauerhafte gemeinsame Interessen bestehen.«
»Oh?«, sagte Mr. Grant, während er sich mit den Zinken der Gabel Beerenkerne zwischen den Zähnen hervorpulte. »Suchen Sie eine Frau, Mr. Nicholls?«
Mr. Nicholls errötete. »Wohl kaum. Ich könnte es mir nicht leisten, eine Frau zu erhalten. Meine Gedanken sind im Augenblick mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Und doch scheinen Frauen das nicht zu begreifen«, meinte Mr. Grant verärgert. »Sie können über nichts anderes reden als Brautwerbungen und Aussteuer.«
Branwell lachte. »Geld kann allerdings einiges in diese Gleichung einbringen.«
Während ich all dies mit anhörte, schlug mir das Herz bis zum Halse, und die Hitze stieg mir ins Gesicht; ich konnte nur mit Mühe meine Zunge im Zaum halten. Diesen selbstgerechten Herren lag allein, weil sie zufällig
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