Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
vorstellen, dass Mr. Nicholls etwas so Gefühlloses geäußert haben soll. Ich glaube nämlich, dass er dich mag.«
»Mich mag? Mach dich nicht lächerlich. Mr. Nicholls mag weder mich noch irgendeine andere Frau. Er hält unser gesamtes Geschlecht für so niedrig und bar jeden Verstandes wie eine Mücke. Das hat er hinreichend klargestellt.«
Um halb neun an jenem Abend versammelte sich der ganze Haushalt zum Gebet in Papas Studierzimmer. Allein Branwell fehlte, der schon seit langer Zeit ablehnte, sich an derlei religiösen Übungen zu beteiligen. Als Papa die Andacht um neun Uhr beendete (pünktlich wie immer), verkündete Anne ganz nüchtern, dass sie Thorp Green für immer verlassen hatte.
»Ich verstehe nicht recht«, rief Papa besorgt. »Du hattest doch bei den Robinsons eine ausgezeichnete Stellung und wurdest als Gouvernante hervorragend entlohnt. Hat man dich dort etwa schlecht behandelt?«
»Nein, Papa«, antwortete Anne ruhig.
»Warum bist du dann fortgegangen?«
»Ich hatte einfach das Gefühl, dass die rechte Zeit dafür gekommen war, diesen Posten zu verlassen«, beharrte Anne.
»Nun, das scheint mir sehr dumm zu sein.«
Ich bemerkte, wie die Röte auf Annes Züge trat, obwohl mein Vater mit seiner geschwächten Sehkraft das nicht sehen konnte. Papa verriegelte die Haustür, zog die Standuhr mit dem Mahagonigehäuse auf, die auf der halben Treppe stand (sein allabendliches Ritual) und ging dann in seine Schlafkammer hinauf. Während wir uns alle zum Schlafengehen vorbereiteten und Emily und die Bediensteten in ihren jeweiligenZimmern verschwanden, war ich entschlossen, das Thema mit Anne noch einmal zu erörtern.
Anne und ich zogen unsere Nachthemden über; während wir unser Haar herabließen, das in letzter Zeit sehr lang geworden war, kamen wir überein, einander die Locken zu bürsten. Ich setzte mich hinter Anne aufs Bett und machte mich an die Arbeit. Haare zu bürsten, dafür konnte meine Schwester Emily keine Geduld aufbringen, Anne und ich hingegen führten diese Tätigkeit mit größter Hingabe und viel Vergnügen aus und vermissten sie sehr, wenn wir voneinander getrennt waren. Nach einer Weile sagte ich: »Ich freue mich so sehr, dass du wieder zu Hause bist, Anne. Ich habe Thorp Green nie gesehen, und du hast mir nur wenig davon erzählt, wie dein Leben dort war, und doch habe ich vollkommenes Verständnis dafür, dass du dort weg wolltest.«
Anne fuhr überrascht auf. »Wirklich?«
»Ja. Ich war, wie du dich erinnerst, selbst sehr unglücklich in meinen beiden Stellungen als Gouvernante, besonders in der ersten.«
»Oh – ich verstehe«, war ihre Antwort.
»Gouvernante sein, das ist ein Sklavenleben«, sagte ich, während ich die Bürste mit festen Strichen durch ihre hellbraunen Locken führte. »Selbst das größte Haus, das von den ausgedehntesten herrlichen Waldungen, grünen Rasenflächen und gewundenen weißen Pfaden umgeben ist, kann einen nicht dafür entschädigen, dass man nie einen freien Augenblick hat, dies alles zu genießen.«
»Das stimmt.«
»Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, als ich bei den Sidgwicks zu arbeiten begann. Mrs. Sidgwick wollte mich gar nicht kennenlernen. Ihr einziger Lebenszweck schien darin zu bestehen, mich zur größtmöglichen Menge an Arbeit zu zwingen.Für einen Hungerlohn wurde von mir erwartet, dass ich die Kinder in einem Dutzend von Fächern unterrichtete, doch die interessierten sich überhaupt nicht fürs Lernen. Von dem Augenblick an, wo ich erwachte, bis zu der Stunde, da sie endlich schlafen gingen, waren die Kinder ständig um mich. Danach wurde von mir erwartet, dass ich noch bei Kerzenschein nähte, bis ich beinahe vor Erschöpfung umfiel – nicht nur Taschentücher und Tischtücher säumte, sondern auch noch die Puppenkleider schneiderte.«
»Genau wie bei mir«, stimmte mir Anne zu. »Zusätzlich zum Nähen und Schneidern von Puppenkleidern musste ich auch noch Spitzen häkeln und Bilder malen und Musikstücke komponieren und vorgeben, all dies sei das Werk meiner Schützlinge.«
»Oh! Das bringt einem das Blut in Wallung!«
»Durftest du dich je in der Gesellschaft der Erwachsenen bewegen, Charlotte?«
»Mich in ihrer Gesellschaft bewegen? Nein. Wenn die Sedgwicks Gäste hatten, war es vielmehr meine Pflicht, die Kinder von ihnen fernzuhalten. Zu seltenen Anlässen musste ich die Kinder, in ihren besten Kleidern herausgeputzt, im Salon vorführen, damit die Damen sie tätscheln und bewundern konnten – aber
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