Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
da ich jedes einzelne Wort so genau kannte, dass ich sie alle im Schlaf hätte aufsagen können, verursachte mir ein bloßer Blick auf den Umschlag mit der Adresse »Miss Charlotte Brontë« in dieser sauberen, entschlossenen und vertrauten Handschrift und mit dem schön geschnittenen Stempel der drei geliebten Initialen einen Schauder, der mir durch alle Adern rann und mich bis ins Innerste erwärmte.
Wie viele Briefe hatte ich in den letzten achtzehn Monaten nach Brüssel geschickt, überlegte ich? Zu viele, um siezu zählen; und doch hatte ich in all der Zeit nur diese fünf kostbaren Antworten erhalten. Manche davon hatte ich sofort nach ihrem Eintreffen verschlungen; andere hatte ich mir – wie einen wunderbar reifen Pfirsich, der zu köstlich war, um sofort verspeist zu werden – für einen späteren Zeitpunkt aufbewahrt, wenn ich sie, abseits von neugierigen Augen und fragenden Zungen, würde genießen können. Jeden hatte ich mit allergrößter Sorgfalt geöffnet, sanft die Klinge des Messers unter das Siegel geführt, damit der geschmolzene Kreis in seiner ganzen scharlachroten Schönheit erhalten bliebe.
Nun nahm ich den ersten Umschlag zur Hand und zog die frischen weißen Seiten sorgfältig heraus, um die Ränder nicht zu knicken oder zu beschädigen; mit pochendem Herzen faltete ich sie auseinander und gab mich meinem Vergnügen hin. Die Briefe waren natürlich in französischer Sprache verfasst. Ich hatte während meines Aufenthaltes in Belgien eine gewisse Fertigkeit in dieser Sprache erlangt. Seit ich dieses Land verlassen hatte, hatte ich beschlossen, täglich eine halbe Seite in einer französischen Zeitung zu lesen, um meine Kenntnisse frisch zu halten. Nun nahm ich mir Zeit, genoss langsam jedes Wort, immer einen Brief nach dem anderen, bis ich alle fünf gelesen hatte. Als ich damit fertig war, verschnürte und verpackte ich sie so sorgfältig wie vorher, legte sie in ihr Kästchen zurück und verstaute sie erneut in ihrem Versteck.
Liebes Tagebuch, du magst fragen: Was enthielten diese Briefe, dass ich sie mit so leidenschaftlicher Sehnsucht erwartete und mit solchem Eifer wieder und wieder las? Reichten sie in ihrer Wucht und Brillanz an Shakespeare heran? Ähnelten sie Byrons Ergüssen einer gequälten Dichterseele? Wohl kaum. Es waren einfach nette Briefe, in einer freundlichen Stimmung verfasst, in denen der Schreiber mir Nachrichten von Menschen übermittelte, die wir beide kannten, und weiseRatschläge gab. Und doch erschienen sie mir wie ein Lebenselixier aus göttlicher Hand; ein Trank, den Hebe mir gereicht hatte und den die Götter selbst billigen würden. Sie nährten meine Seele; sie schenkten mir lebenswichtigen Trost. Als mir dieser Trost genommen wurde – und die Monate vorüberzogen und eine Jahreszeit der anderen folgte, ohne dass mich ein Wort von meinem Professor erreichte –, quälte mich das außerordentlich, und ich verschloss die Briefe in meiner Schublade und verfiel in einen Zustand der Starre, aus dem ich keinen Ausweg zu finden schien.
Was hatte ich getan, dass ich dieses Schweigen verdiente? Nach jener Nacht im Garten, nach allem, was er gesagt hatte, und allem, was geschehen war, schien es mir unmöglich, dass er mich vergessen hatte; und doch war mir, als wollte er, dass ich ihn vergesse.
Menschen, die einen tragischen Verlust erlitten haben, tragen oft Erinnerungsstücke an den geliebten Verblichenen zusammen und halten diese versteckt; es bereitet ihnen nämlich zu großen Schmerz, jeden Augenblick durch die unmittelbare Wiederbelebung der Trauer bis ins Herz getroffen zu werden. Genauso hatte ich seine Briefe außerhalb meiner Sichtweite verborgen und versucht, sie nicht mehr zu lesen. Monatelang hatte ich mir das Vergnügen versagt, über ihn zu sprechen, nicht einmal mit Emily, der einzigen in unserem Haushalt, die ihn auch kannte.
Oh, wie töricht sind Menschenherzen! Wenn wir den Gegenstand unserer Bewunderung doch mit Klugheit und Scharfblick auswählen könnten! Mit körperlichen Leiden war es anders, etwa mit der Blindheit, unter der Papa litt. In solchen Fällen waren wir leider gezwungen, unsere Pein allen Menschen unserer Umgebung mitzuteilen. Die Leiden der Seele jedoch sollten und mussten verborgen bleiben; ichkonnte von meinem Geheimnis mit niemandem, nicht einmal mit meiner Familie sprechen. Sie mussten glauben, dass ich für meinen Lehrer nichts als Freundschaft empfand – und empfunden hatte –, dass ich ihn lediglich als meinen Lehrer
Weitere Kostenlose Bücher