Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
schicksalhaften Abend gewesen war. Vielleicht war dieser Traum ein Omen, kein schlechtes Zeichen, sondern ein gutes. Vielleicht bedeutete er, dass heute mein Wunsch in Erfüllung gehen würde. Endlich würde ich einen Brief aus Brüssel erhalten.
Ich konnte ihn schon vor meinem geistigen Auge sehen: ein cremeweißer Umschlag mit dem Zyklopenauge des scharlachroten Wachssiegels in der Mitte. Ich konnte den so sehr ersehnten Umschlag beinahe mit Händen fühlen: fest, solide und angenehm, mit dem Versprechen mindestens eines Briefbogens darin. Ein kleiner Schauder überlief mich bei diesem Gedanken. Es war früher, als ich sonst aufzustehen pflegte, aber ich verließ voller Vorfreude mein warmes Bett und zog mich rasch an.
Nicht lange danach saß ich unten und las eine meiner französischen Zeitungen. Die Kirchenglocken läuteten die frühe Morgenstunde, und nur wenige Augenblicke später hörte ich von oben das vertraute Knallen von Papas Pistole. Seit den Tagen der Maschinenstürmer vor mehr als dreißig Jahren hatte sich Papa angewöhnt, stets mit einer geladenen Pistole auf dem Nachttisch zu schlafen, und seine erste Verrichtung nach dem Aufwachen war es, diese Pistole aus dem Schlafzimmerfenster abzuschießen, gewöhnlich in Richtung des Kirchturms. Diese recht exzentrische Angewohnheit galtinzwischen im gesamten Haushalt – und zweifellos in der ganzen Nachbarschaft – als Zeichen, dass es Zeit zum Aufstehen war. Ich hörte, wie erwartet, dass sich oben etwas regte, und schon bald erschien Martha, die sich überrascht zeigte, mich schon vor ihr auf zu sehen.
Nach dem Frühstück machte ich mich in einer Art Nebel an meine Pflichten im Haushalt und lauschte mit fiebernder Erwartung auf die sich nähernden Schritte des Postboten. Endlich war er da. Ich rannte ihm zur Haustür entgegen, wo ich seine Handvoll Post entgegennahm und rasch durchschaute. Eine Welle der Enttäuschung schwappte über mich hinweg; der erwartete Brief war nicht dabei.
»Was führst denn du im Schilde?«, fragte Tabby, die gerade den Flur entlanggeschlurft kam, und nahm mir unsanft die Post aus der Hand. »Die Briefe sind meine Aufgabe, und das weißt du nur zu gut. Du kannst sie deinem Vater später vorlesen, nach dem Tee.«
Tabby schlurfte in Papas Studierzimmer; als die Tür aufging, wehte Musik auf den Flur heraus. Emily übte an ihrem Pianino; durch den Türspalt sah ich, dass Anne neben ihr auf der Klavierbank saß und ihr die Noten umblätterte. Ich wusste, dass ich eigentlich ins Esszimmer zurückgehen sollte, wo ich das Kamingitter poliert hatte. Aber das Herz war mir zu schwer. Ich hatte jeden Willen verloren, mich zu bewegen. Der lange erwartete Brief wäre die Antwort auf meine Gebete gewesen, meine Erlösung aus der Verzweiflung vieler einsamer Monate; aber er war nicht gekommen.
Als Tabby auf dem Weg zur Küche an mir vorüberging, gab ich mir einen innerlichen Ruck. Benimm dich nicht wie eine Närrin. Es ist nur ein Brief, rief mir eine strenge innere Stimme zu. Er wird dir eines Tages wieder schreiben, das wird er ganz gewiss. Eine andere, viel lieblichere und schmeichlerischereStimme als die erste fuhr rasch fort: Wenn du nicht die Genugtuung eines
neuen
Briefs hast, so bleibt dir noch immer eine Möglichkeit. Mein Herz schlug schneller. Ich war unentschlossen. Es ist höchste Zeit, schalt ich mich, dieses sündige Vergnügen aufzugeben. Aber ich konnte nicht anders.
Mit einem raschen Blick ins Studierzimmer überzeugte ich mich, dass Emily und Anne noch mindestens eine gute halbe Stunde am Klavier sitzen würden. Hastig stahl ich mich nach oben, nahm einen Schlüssel aus meiner Tasche und schloss die unterste Schublade meines Schreibtisches auf. Aus den tiefsten Tiefen zog ich ein kleines Rosenholzkästchen hervor, das einst meiner Mutter gehört hatte. Ich öffnete das Kästchen und nahm ein in Silberpapier gehülltes Bündel heraus. Daraus wickelte ich ein kleines Päckchen Briefe, die mit einer scharlachroten Schleife zusammengebunden waren. Nur fünf Briefe, daraus bestand mein ganzer Schatz. Ich setzte mich aufs Bett, schnürte das kostbare Bündel auf und blickte auf den ersten Brief in diesem Stapel: den, der wenige Wochen nach meiner Rückkehr aus Belgien eingetroffen war.
Oh, was für ein Entzücken ich bei seinem Empfang verspürt hatte, genauso bei der Ankunft seiner Nachfolger. Jeder neue Brief war mir wie göttliche Nahrung erschienen: vom Himmel gesandt, süß, rein und lebenserhaltend. Selbst jetzt,
Weitere Kostenlose Bücher