Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
mitleidigen Blick auf mein Nachthemd fort, das ich selbst genäht und bereits einige Male geflickt hatte. »Deine
vêtements
2 sind so alt!«
»Wir sind nicht annähernd so arm wie einige andere in unserer Gemeinde. Wir haben genug zu essen und Brennstoff für das Feuer und jede Menge gute Bücher zu lesen.«
»Bücher!«, spottete Amelia. »Wer schert sich schon darum, wie viele Bücher ihr habt? Bücher kann man nicht
tragen
!« Sie schlüpfte unter die Steppdecke und sagte: »Du kannst jetzt die Kerzen ausblasen.«
Obwohl die Kerzen viel näher an ihrem Bett als an meinem standen, löschte ich sie pflichtschuldig und tastete mich durch die tintenschwarze Dunkelheit zu meinem Bett zurück. Trotz meiner Erschöpfung fand ich jedoch keine Ruhe dort. Es war das erste Mal, dass ich ein Bett ganz für mich allein hatte; Emily war, seit ich denken konnte, meine Bettgesellin gewesen, und die leere Weite zwischen den eiskalten Laken fühlte sich seltsam und furchterregend an. Folglich lag ich bis in die frühen Morgenstunden wach, versuchte nicht daran zu denken, wie viele lange Monate es dauern würde, bis ich meine geliebte Familie wiedersah, und grübelte darüber nach, was der nächste Tag wohl bringen könnte.
Zu meiner Überraschung erwies sich der Tagesablauf in der Roe Head School als sehr angenehm. Die Unterrichtsmethoden wurden an die individuellen Begabungen und Fähigkeiten jeder Schülerin angepasst. Wenn wir mit unseren Lektionenfertig waren, gingen wir zu Miss Wooler und sagten den Stoff auf. Sie hatte eine bemerkenswerte Fähigkeit, unser Interesse für alles zu wecken, was wir zu lernen hatten; sie brachte uns bei, nachzudenken und zu analysieren und wertzuschätzen; und sie weckte in mir einen noch größeren Wissensdurst, als ich ihn ohnehin schon besessen hatte. Im Gegensatz zu meiner vorigen Schule – wo das Essen spärlich oder ungenießbar war – waren die Mahlzeiten in Roe Head sorgfältig zubereitet und reichlich. Miss Wooler legte großen Wert auf unser allgemeines körperliches Wohlbefinden, ließ uns genug Zeit zum Ausruhen und Spielen und bestand darauf, dass tägliche Spaziergänge und Spiele im Freien für unsere Gesundheit unverzichtbar seien.
Leider hatte ich keine Erfahrung mit Spielen im Freien. Während die anderen Mädchen sich an einem frostigen Nachmittag am Tag nach meiner Ankunft mit einem Spiel namens »Franzosen und Engländer« 3 die Zeit vertrieben, zog ich mich unter einen großen, kahlen Baum zurück, wo ich im Stehen in Lindley Murrays
Englischer Grammatik
las. Nachdem ich mich eine Weile so beschäftigt hatte, hörte ich auf einmal eine Stimme neben mir.
»Warum hältst du dir das Buch so dicht vor die Nase? Brauchst du eine Brille?«
»Nein«, antwortete ich entrüstet und wandte mich dem Mädchen zu, das mich angesprochen hatte. »Ich sehe gut.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen. Du heißt Charlotte, nicht wahr?«
»Ja. Und du bist Mary Taylor. Du hast hier auch eine jüngere Schwester, die Martha heißt.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis.« Mary, die zehn Monate jünger war als ich, war erstaunlich hübsch und hatte intelligente Augen, einen makellosen Teint und dunkles, seidenglattes Haar. Ich konnte jedoch nicht umhin, zu bemerken, dass sie – obwohl ihre Kleidung viel schöner war als alles, was ich besaß – nicht so gut angezogen war wie die anderen Schülerinnen (wie ich später herausfand, lag das daran, dass ihr Vater wegen eines Liefervertrags an die Armee Bankrott gemacht hatte). Marys rotes Kleid hatte kurze Ärmel und einen tiefen Ausschnitt, was sonst nur die jüngeren Mädchen trugen; ihre Handschuhe waren überall nachgenäht, damit sie länger hielten, und ihr dunkelblauer Tuchmantel war ihr zu klein geworden und viel zu kurz. Insgesamt ließ sie all das sehr kindlich erscheinen, aber das machte ihr offenbar nicht das Geringste aus und trug nur seinen Teil dazu bei, dass ich mich mit ihr wohler fühlte.
»Komm und mach mit. Wir spielen Ball«, sagte Mary.
»Danke, aber ich spiele nicht Ball.«
»Wie meinst du das? Jeder spielt Ball.«
»Ich nicht. Ich würde lieber lesen.«
Ehe ich das weiter erklären konnte, riefen die anderen Mädchen, wir sollten kommen und bei dem neuen Spiel mitmachen. »Los«, drängte mich Mary, die mir ihre behandschuhte Hand entgegenstreckte. »Hannah ist erkältet und darf nicht aus dem Haus. Wir brauchen noch jemanden in unserer Mannschaft.«
Es sah so aus, als bliebe mir nichts anderes übrig, als
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