Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Zimmer. Martha, die ihr folgte, blieb mit verschränkten Armen gleich hinter der Tür stehen und schüttelte den Kopf. »Na, na, was haben wir denn da, junger Herr Branwell? Zwei Uhr nachmittags, und Ihr seid schon so angesäuselt?«
»Martha«, drängte Branwell mit einem plötzlichen Lächeln und charmanter Stimme, »sei ein braves Mädchen und bringe mir etwas von dem Wein, von dem ich weiß, dass du ihn in dem verschlossenen Schrank aufbewahrst.«
»Das werde ich nicht tun, Herr.«
»Emily? Du würdest deinem Bruder doch nicht in der Stunde seiner Not ein Tröpfchen verwehren?«
»Ich denke, du hattest schon genug«, bemerkte Emily leise.
Ich wandte mich zu Mr. Nicholls um und sagte mit kühler Förmlichkeit: »Ich danke Ihnen sehr, mein Herr, dass Sie meinen Bruder nach Hause gebracht haben.« Als ich meine Augen zu ihm erhob, erblickte ich darin zu meiner Überraschung nicht das Mitleid und den Spott, die ich erwartete hatte, sondernechtes Mitgefühl und Fürsorge, gepaart mit Bescheidenheit und einer gewissen Ängstlichkeit.
»Werden Sie zurechtkommen, Miss Brontë?«, fragte Mr. Nicholls ruhig.
Einigermaßen verwirrt erwiderte ich: »Ja, vielen Dank. Martha und Emily sind ja da.«
Er nickte und schaute zur Tür. Ich hoffte, er würde nun endlich gehen, doch das tat er nicht. Er blieb einen Augenblick lang, tief in Gedanken versunken, mitten im Zimmer stehen, als versuchte er, den Mut aufzubringen, mich etwas zu fragen. Ich war verwirrt und ein wenig verärgert. Warum stand dieser große, starke Mann, der vor wenigen Augenblicken meinen missratenen Bruder ganz allein gebändigt und nach Hause geschleppt hatte, jetzt wie eine ängstliche Jammergestalt reglos vor mir?
Plötzlich dröhnte Schnarchen durch den Raum. Erleichtert bemerkte ich, dass Branwell auf seinem Sessel tief und fest eingeschlafen war. Das Geräusch schien ein heiteres, aber angemessenes Ende für so viel Drama zu sein, und da es zwischen kurzen nasalen Schnüfflern und lautem, bebendem Schnaufen abwechselte, mutete es mich so komisch an, dass ich mir ein Lächeln kaum verkneifen konnte. Das Geräusch schien auch Mr. Nicholls wieder zum Leben zu erwecken, denn er lächelte ebenfalls. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Emily und Martha wurden ebenfalls davon angesteckt; schon bald konnte ich nicht anders, als auch in ihr Lachen einzufallen. Einige Augenblicke lang genossen wir die Fröhlichkeit und bemühten uns nach Kräften, so leise wie möglich zu lachen, um unseren vom rechten Weg abgekommenen Schläfer nicht zu wecken.
Emily drehte sich um, stieß an den Tisch und warf versehentlich einen Kerzenleuchter um, der laut klirrend zu Bodenfiel. Sie hielt erschreckt die Luft an, und alle Augen wanderten zu Branwells Sessel. Aber der schnarchte unvermindert weiter, was weitere Heiterkeitsausbrüche hervorrief.
Martha verließ, noch kichernd, das Zimmer. Mr. Nicholls räusperte sich. Er schaute zu mir herab, dann zu Emily hinüber und sagte schließlich: »Miss Brontë, Miss Emily. Ich wollte Sie schon länger etwas fragen. Würden Sie mir erlauben, ab und zu einen Ihrer Hunde oder gar beide zu einem Spaziergang aufs Moor mitzunehmen? Ich genieße meine täglichen Spaziergänge und würde mich über die Gesellschaft freuen.«
Diese Bitte überraschte mich. »Es ist nicht an mir, Ihnen diese Bitte zu gewähren«, erwiderte ich mit einem Blick auf Emily.
Nach einigem Zögern sagte die: »Ich bin mir sicher, dass Flossy Sie liebend gern begleiten würde, Sir, doch ich muss zuerst Anne fragen. Ich passe nur auf den Hund auf, aber tatsächlich gehört er Anne. Was Keeper betrifft, so haben Sie meinen Segen. Doch ich möchte die letzte Entscheidung ihm überlassen.«
»Dann komme ich also morgen früh vorbei«, erwiderte Mr. Nicholls und wirkte höchst erfreut. Er verneigte sich und fügte mit einem Abschiedsblick auf Branwell hinzu: »Sollten Sie weitere Hilfe benötigen, Miss Brontë, heute oder zu irgendeiner anderen Zeit, dann zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden.«
»Noch einmal vielen Dank, Mr. Nicholls«, sagte ich.
Mit einem Kopfnicken verschwand er.
Der Sommer zog ins Land. Papa, meine Schwestern und ich sahen in hilfloser Verzweiflung zu, wie Branwell immer schwächer und immer mehr zum Nervenbündel wurde. Mrs. Robinson schickte Branwell Geld und traf sich, glaube ich, sogar einoder zwei Male heimlich mit ihm in einem Gasthaus in Harrogate. Er erhielt Nachrichten über sie in Briefen von ihrer Zofe und ihrem
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