Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
auf der Treppe näherten. Ich konnte nur, das Notizbuch noch in der Hand, mit hochrotem Kopf aufspringen, als Emily ins Zimmer trat.
Sie erstarrte und schaute mich schockiert an. Dann fragte sie: »Wo hast du das her?«
»Es tut mir leid, ich …«
Emily stürzte sich auf mich und riss mir das Notizbuch aus den Fingern. »Das gehört mir. Niemand außer mir sollte das je sehen. Das wusstest du.« Emily war keine mitteilsame Natur. Wenn sie einmal tiefe Ängste oder große Freude empfand, dann ließ sie es nur selten zu, dass diese Gefühle für mehr als einen flüchtigen, kurzen Augenblick in ihren Augen aufblitzten oder durch Worte zum Ausdruck kamen. Doch jetzt sah sie mich wutentbrannt an, und ihre Stimme klang hart und schrill. »Was hast du gemacht? Den Schlüssel zu meinem Pult gestohlen? Es aufgebrochen?«
»Nein! Dein Schreibpult lag aufgeklappt auf dem Bett. Das Notizbuch war aufgeschlagen, das Tintenfass aufgeschraubt. Alles stand offen.« Ich sah, wie sich Emilys Augen kurz verengten, als erinnerte sie sich an diese unbeabsichtigte Nachlässigkeit. Ich fuhr rasch fort: »Ich habe es bemerkt, als ich hereinkam, um das Bett frisch zu beziehen. Das Fenster stand sperrangelweit auf. Der Wind wehte herein. Ich wollte nur das Tintenfass zuschrauben und das Notizbuch zuklappen, um …«
»Und warum hast du das nicht getan?« Emilys Augen blitzten mich an. Ich hatte sie noch nie so wütend erlebt. »Hast du alles gelesen?«
»Ich … ja … ich …«
»Du hattest kein Recht dazu! Wie viel hast du gelesen?«
»Beinahe alles.«
»Beinahe alles? Wie kannst du es wagen!« Sie holte aus und schlug mich fest auf die Wange.
Der unverhoffte Schlag trieb mir die Tränen in die Augen und ließ mich einen Schritt zurück aufs Bett taumeln. Noch nie, in meinem ganzen Leben nicht, hatte ich gesehen, dass Emily jemanden schlug. Sie gab höchstens ihrem geliebten Keeper einen Klaps, wenn er sich schlecht benommen hatte. Ich hatte sie kaum einmal wütend erlebt, und wenn, dann hatte sich diese Wut niemals gegen mich gerichtet. Und doch wusste ich, dass ich sie verdient hatte. Ich setzte mich wieder aufrecht auf das Bett, hielt die Hand an die brennende Wange, die nun tränennass war.
»Es tut mir so leid, Emily. Ich hatte befürchtet, dass du wütend sein würdest, aber oh, wie sehr hoffe ich, dass du mir verzeihst! Was du geschrieben hast, ist herrlich – wunderbar – unglaublich! Es zu lesen, war ein großes Geschenk.«
Ich blickte auf und hoffte, eine Spur von Vergebung in EmilysAugen zu entdecken, aber ich sah nur Wut. Durch die offene Zimmertür erhaschte ich einen Blick auf Anne, die auf dem Flur stand und uns schweigend und entsetzt anstarrte.
»Mach, dass du aus meinem Zimmer kommst!«, schrie Emily so heftig und mit solcher Entschiedenheit, dass mir kalte Schauer über den Rücken liefen.
Ich rührte mich nicht; ich wusste, wenn ich jetzt floh, würde sie die Tür hinter mir schließen und den ganzen Tag nicht mehr herauskommen und mit mir reden; lieber würde ich ihren Zorn und ihre erneute Heftigkeit riskieren und die Gelegenheit nutzen, ihr zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte. »Bitte, Emily, hör mir zu. Ich wollte das Notizbuch nur wegräumen, damit ihm nichts geschah – mehr nicht. Aber ein, zwei Zeilen haben meine Aufmerksamkeit erregt, und als ich einmal angefangen hatte, konnte ich einfach nicht mehr aufhören.«
»Du lügst! Du hättest aufhören können! Du hast absichtlich weitergelesen!«
»Nein, ich
konnte
einfach nicht aufhören. Deine Gedichte sind so gut, so originell – sie sind voller Energie, voller Pathos, mit einer unbändigen und ganz eigenen Stimme – melancholisch und doch erhaben …«
»Mir liegt nichts an deiner Schmeichelei. Du versuchst nur, deine Schande zu rechtfertigen. Du wusstest ganz genau, wie ich empfinde, und trotzdem bist du in mein Allerheiligstes vorgedrungen. Du bist eine Verräterin, und ich will, dass du mein Zimmer verlässt, und zwar sofort.«
SIEBEN
Emily schlug die Tür hinter mir zu und kam zwei Stunden lang nicht aus ihrem Zimmer, bis sie nach unten gehen und bei der Zubereitung des Abendessens helfen musste.
Während wir Seite an Seite in der Küche arbeiteten, versuchte ich, weiter für meine Sichtweise zu plädieren, aber Emily brachte mich mit einem strengen Tadel zum Schweigen: »Es war schlimm genug, dass du
ein
Gedicht gelesen hast, Charlotte. Aber alle zu lesen –
alle
! Das ist unverzeihlich!«
Bei Tisch sprach Emily kein Wort mit
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