Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
weiterlesen durfte. Emily würde das sicherlich nicht gern sehen. Aber die beiden kurzen Strophen hatten mein Interesse geweckt. Sie waren von einer so wunderbaren Lebendigkeit und Musikalität. Ich konnte nicht umhin, ich musste einfach herausfinden, wovon das Gedicht handelte. Wer war Rochelle? Warum und wo schmachtete sie in Gefangenschaft? Wer war der Erzähler? War der Rest des Gedichtes so wunderbar wie diese wenigen Zeilen?
Ich nahm das Notizbuch in die Hand. Es war ein weich gebundenes weinrotes Heft, wie ich selbst ein, zwei besaß, nur wenig eleganter als das Buch, in das wir unsere Eintragungen über die Wäsche machten. Auf der Titelseite stand »Emily Jane Brontë: GEDICHTE AUS GONDAL.« Ich blätterte es durch. Die schwach linierten Seiten waren mit Emilys winziger, eng zusammengedrängter Schrift bedeckt. Es waren sehr viele Gedichte – Gedichte, die sie anscheinend an anderer Stelle entworfen und hier in ihrer Endfassung ins Reine geschrieben hatte. Obwohl Emilys winzige Schrift sicher für manchen schwer zu entziffern war, war sie mir wohlvertraut. Bei vielen Gedichten stand das Entstehungsdatum; die meisten hatten keinen Titel, aber bei einigen waren oben ein, zwei Namen oder einfach Initialen verzeichnet, die (überlegte ich) wahrscheinlich die Personen der Handlung nannten, die im Gedicht porträtiert wurden.
Das
machte Emily also immer, wenn sie sich in ihrem Zimmer einschloss! Sie hatte Gedichte über ihre Phantasiewelt Gondal geschrieben!
Diese Entdeckung war für mich keine völlige Überraschung. Ich hatte immer gewusst, dass Emily Gedichte schreiben konnte und auch schrieb. Als Kinder lasen wir einander alles vor, was wir verfasst hatten, und fragten einander um Rat und Hilfe. In letzter Zeit hatten wir diese Angewohnheit aufgegeben, vor allem, da wir länger voneinander getrennt waren und wohl auch ein größeres Bedürfnis nach Zurückgezogenheit verspürten. Nun wurde mir klar, dass mir völlig entgangen war, welche Fortschritte Emily gemacht hatte.
Ich wusste mit Sicherheit, dass Emily und Anne gerade mit den Hunden zu einem langen Spaziergang aufgebrochen waren. Branwell lag noch im Bett, nachdem er sehr spät aus der Gastwirtschaft zurückgekehrt war, Tabby schlief ebenfalls,Papa hielt sich unten in seinem Studierzimmer auf, Martha in der Küche. Mein Gewissen flüsterte mir zu, ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, Emilys Bett machen und das Zimmer verlassen. Aber das Gewissen führte nur einen kurzen, erfolglosen Kampf gegen die Neugier.
Die Neugier siegte.
Ich schloss das Fenster, setzte mich aufs Bett und begann zu lesen. Ich fing mit dem letzten Gedicht im Buch an – dem, das ursprünglich meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es trug das Datum des heutigen Tages. Anscheinend hatte Emily es erst an diesem Morgen gleich nach dem Aufstehen in Reinschrift abgeschrieben. Der Titel lautete schlicht: »Julian M. und A. G. Rochelle«. Es war eine dramatische Ballade über eine junge Frau, die während eines Krieges im Gefängnis saß (wie ich später herausfinden sollte, handelte es sich dabei um Gondals großen, wilden Bürgerkrieg zwischen den Republikanern und den Königstreuen), und von einem Mann, der zwischen Liebe und Pflicht hin und he rgerissen war und nicht wusste, ob er sie freilassen sollte oder nicht. Das Werk war zugleich äußerst poetisch und sehr spannend, und es raubte mir den Atem. 1
Ich blätterte zum Anfang des Büchleins zurück und verschlang den gesamten Inhalt. Meine Erregung wuchs mitjedem Gedicht, das ich las. Dies waren keine gewöhnlichen Seelenergüsse, nicht die üblichen Verse, die Frauen zu schreiben pflegten. Emilys Gedichte strotzten vor Kraft und Wahrhaftigkeit; ihre lyrischen Passagen und ihre Balladen besaßen eine Dringlichkeit, wie ich sie nie zuvor irgendwo wahrgenommen hatte. Ebenso ungewöhnlich waren ihre Themen. Die Gestalten und Situationen, die sie erfunden hatte (und in diesem Notizbuch waren sie alle von Gondal inspiriert), hatten ihr die Möglichkeit gegeben, jene Themen immer wieder genauer zu untersuchen, die sie seit jeher beschäftigten: den stets wiederkehrenden Kreislauf und die Veränderlichkeit der Natur, die Ungewissheit der Zeit und extreme Lebenssituationen wie die Einsamkeit, das Exil und den Tod.
Ich war äußerst aufgeregt und mir war sogleich klar, dass ich etwas von ungeheurem Wert entdeckt hatte. Ich war so in die Lektüre des Büchleins versunken, dass ich die Schritte nicht hörte, die sich
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