Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
veröffentlicht werden.«
»Was?«
»Deine Gedichte. Sie verdienen eine Veröffentlichung.«
Emily schob mich zur Seite und stand angewidert auf. »Du bist ein abscheuliches und Ärgernis erregendes Menschenwesen, Charlotte Brontë. Wenn ich meine Gedichte für so persönlich halte, dass ich sie
deinen
Augen vorenthalten will, warum, um alles in der Welt, sollte ich sie anderen vorlegen?«
»Du musst doch gewiss zumindest einen Hauch von Ehrgeiz verspüren«, sagte ich, während ich aufsprang und ihr und Keeper ins Haus folgte, »deine Arbeiten gedruckt zu sehen.«
»Nein.«
»Warum sonst hast du sie so sorgfältig in deinem Notizbuch ins Reine geschrieben?«
»Um sie für mich aufzuheben, dass ich sie jederzeit wieder lesen kann, nicht für irgendjemanden sonst!«
»Sie verdienen es aber, ja, sie schreien sogar danach, veröffentlicht zu werden«
»Niemals!«, rief Emily, während sie, Keeper im Schlepptau, die Treppe hinaufrannte. Sekunden später hörte ich, wie die Tür mit einem Knall hinter ihr zuschlug.
Am nächsten Morgen weckte mich das Geräusch einer Schublade, die aufgezogen wurde. Ich schlug die Augen auf und erblickte verschwommen eine schmale weibliche Gestalt in weißen Gewändern, die etwas aus der Frisierkommode nahm. Ich setzte mich im Bett auf, suchte meine Brille und konnte die schwebende Gestalt nun scharf sehen, wobei sich mein Verdacht bestätigte, dass es sich tatsächlich um Anne handelte.Als sie bemerkte, dass ich wach war, kam Anne zum Bett und setzte sich ein wenig unsicher neben mich, während sie etwas an ihrer Brust barg.
»Was ist das, Anne?«
»Da dir Emilys Gedichte so viel Freude bereitet haben«, antwortete sie ruhig, »dachte ich, du würdest dir vielleicht gern auch diese hier anschauen.« Sie streckte mir zwei Notizbücher entgegen, die in Größe und Aufmachung dem von Emily glichen.
Ich nahm den angebotenen Schatz voller Überraschung entgegen und schaute hinein. »Wie lange schreibst du schon Gedichte?«
»Ach, schon seit vielen Jahren. Während meines ganzen Aufenthaltes in Thorp Green und lange Zeit davor. Ich habe noch drei weitere Hefte vollgeschrieben.«
»Warum hast du nie etwas davon gesagt?«
»Ich hatte immer das gleiche Gefühl wie Emily – dass es meine ganz persönlichen Grübeleien waren, die nur für meine Augen bestimmt sind. Als ich dich dann aber sagen hörte, dass man sie veröffentlichen sollte, da habe ich mich unwillkürlich gefragt, ob meine Gedichte überhaupt etwas taugen. Wärst du bereit, sie zu lesen und mir das zu sagen?«
Gerührt von ihrer Bescheidenheit und begeistert über ihre Bereitschaft, ihr Werk mit mir zu teilen, las ich ihre Gedichte sofort. Ich verbrachte den gesamten Tag damit und war überrascht und beeindruckt von dem, was ich da vorfand. Da ich Anne so sehr liebte, war ich natürlich notgedrungen eine sehr voreingenommene Leserin, und doch war ich der Ansicht, dass auch ihren Versen eine ganz eigene liebevolle und aufrichtige Leidenschaft innewohnte. Sie waren vielleicht nicht so brillant wie Emilys Gedichte, aber sie verdienten es genauso, veröffentlicht zu werden.
Während ich noch darüber nachdachte, wie meine Schwestern das gemacht hatten, dass sie insgeheim so hervorragende Lyrik geschrieben hatten, stieg plötzlich Erregung in mir auf, gemischt mit einer Spur Scham. Auch ich hatte früher einmal Gedichte geschrieben; sie lagen zusammen mit unzähligen Geschichten und Novellen in einer Reihe von ramponierten Schachteln in meinem Schreibpult verborgen. Beinahe mein ganzes Leben lang war das Schreiben meine größte Freude und mein Trost gewesen, eine Möglichkeit, meine glücklichsten Gefühle zum Ausdruck zu bringen und mich in schmerzlichen Zeiten ein wenig aufzumuntern. Obwohl ich schon lange den brennenden Ehrgeiz hegte, meine Arbeiten gedruckt zu sehen, hatte ich keine Vorstellung davon, wie ich diesen Traum verwirklichen könnte. Seit Anne im Juni nach Hause zurückgekehrt war, hatte ich zudem kein einziges Wort mehr geschrieben.
Nun erwachte der Ehrgeiz erneut in mir, eine verzweifelte Sehnsucht, die ich nicht ignorieren konnte. Ich wartete, bis am Abend meine Schwestern und ich allein im Esszimmer zusammensaßen, ehe ich das Thema ansprach. Ich strickte Strümpfe, Anne nähte an ihrem grau gemusterten Seidenkleid, das sie gerade in Keighley hatte neu einfärben lassen, und Emily bügelte.
»Anne hat mir einige Gedichte gezeigt, die sie geschrieben hat«, sagte ich beiläufig, während ich die
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