Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
verurteilt, weil ich eine Beziehung zur verheirateten Lydia Robinson unterhielt, während du dich doch selbst während deines gesamten Aufenthaltes in Brüssel in gleicher Manier mit einem verheirateten Mann abgegeben hast?«
Meine Wangen wurden glühend heiß; das Herz pochte mir in den Ohren. »Das ist eine vollkommene Lüge.«
»Da hat mir Emily aber etwas ganz anderes erzählt«, gab er bedeutungsschwanger zurück, während er sich an mir vorüberdrängte, die Haustür aufriss und Wind und Regen ins Haus ließ. »Charlotte, die Schlampe!«, brüllte er mit schrillem Lachen, während er ohne Mantel in den strömenden Regen hinauslief. »Du weißt, was die Leute sagen: der getroffene Hund bellt!« Mit diesen Worten knallte er die Tür zu und war verschwunden.
Niederschmetternde Stille erfüllte den Flur. Meine Schwestern und ich standen wie vom Donner gerührt da, während ich versuchte, wieder zur Besinnung zu kommen. Mit bebender Stimme fragte ich: »Was hast du ihm erzählt, Emily?«
»Ich habe nie gesagt, dass du dich mit jemandem abgegeben hast«, erwiderte Emily und schüttelte verärgert den Kopf. »Ich habe nur gesagt, dass du Gefühle für unseren Professor entwickelt hast und dass … dass die Dinge vielleicht ein wenig außer Kontrolle geraten sind.«
»Außer Kontrolle?«, rief ich. »Was genau soll das bitte heißen?«
»Tu nicht so herablassend, Charlotte! Ich habe ihm nur erzählt, was ich für wahr halte. Ich wollte ihn trösten – er war so deprimiert, hat geweint und ständig davon geredet, wie sehr er seine Mrs. Robinson vermisst. Und da habe ich ihm gesagt, er solle sich ein Beispiel an dir nehmen und lernen, sein Missgeschick mit mehr Haltung und Würde zu ertragen.«
»Wie kannst du es wagen, auch nur daran zu denken, meine Lage mit der seinen zu vergleichen?«, zischte ich wütend zurück. »Branwell hatte drei Jahre lang eine Affäre! Er hat jede Regel der Moral und des Anstands mit Füßen getreten! Ich habe nichts dergleichen getan!«
»Vielleicht nicht«, erwiderte Emily. »Aber du warst vernarrt – verliebt – vergafft. Das weiß ich!«
Ich starrte sie an. »Wie kannst du wissen, was ich gefühlt habe oder was vorgefallen ist? Du bist nach dem ersten Jahr in Brüssel wieder nach Hause gefahren, Emily. Du warst gar nicht da!«
»Charlotte, glaubst du, ich bin blind und taub? Oder kennst du dein eigenes Herz so wenig? Ich habe deine Gedichte gelesen: ›Ungeliebt – liebe ich doch. Unbeweint – weine ich doch.‹ Und
Gilberts Garten
! Dein Verlangen spricht deutlich aus jeder Zeile. Du hast nach deiner Rückkehr ein ganzes Jahr lang über nichts anderes als über Monsieur Héger gesprochen! Selbst jetzt noch schaust du jeden Tag die Post durch, sehnst dich verzweifelt nach einem Brief, der nie kommen wird.«
Heiße Tränen schossen mir in die Augen. Ich konnte es nicht mehr mit anhören. Ich fuhr herum und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass keine drei Fuß entfernt die Tür zu Papas Studierzimmer offen stand. Und da drinnen saß Mr.Nicholls. Unsere Blicke trafen sich. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er jedes Wort unseres Streits mit angehört hatte.
Beschämt floh ich die Treppe hinauf. Emily folgte mir auf dem Fuße. Als ich in mein Zimmer rannte und mich dort auf mein Bett warf, kam sie hinter mir her und knallte die Tür zu.
»Ich habe gerade begriffen«, rief sie, während sie näher trat, »dass dein Buch deswegen so leidenschaftslos – so seelenlos – ist. Deswegen sind die Figuren, die du beschreibst, so hölzern.« In ihrer Stimme schwang große Überraschung mit.
»Was?«, wimmerte ich entrüstet und schaute sie durch einen Tränenschleier an. »Was hat mein Buch mit all dem zu tun?«
»Es hat unendlich viel damit zu tun. Du hast über deine Zeit in Brüssel geschrieben, aber du bist an der Oberfläche geblieben, niemals in die Tiefe gegangen. Du hast mehr Gefühl in die Beschreibung der Landschaft gelegt, wenn William in Belgien ankommt, als in irgendeine Szene zwischen ihm und Frances. Wir entwickeln keine Gefühle für den Professor und seine langweilige kleine Dame, weil du Angst hast, uns diese Gefühle zu vermitteln. Gib’s zu, Charlotte: Es ist etwas geschehen in Belgien – etwas, wovon du uns nichts erzählt hast. Und das wirkt sich bis heute auf dich aus, so sehr, dass du nicht mit aufrichtigem, echtem Gefühl darüber – oder über sonst etwas – schreiben kannst. Du erlaubst dir ja nicht einmal selbst Gefühle! Du hast eine Mauer um
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