Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Angelegenheiten der Gemeinde zu besprechen, und obwohl ich ihn regelmäßig in der Kirche und in der Sonntagsschule traf, wo ich unter seiner Anleitung unterrichtete, war es mir in den drei Monaten seit dem Tag, an dem er uns das Paket mit dem Schreibpapier gebracht hatte, gelungen, jeglichem längeren Gespräch mit ihm aus dem Weg zu gehen. Ich wollte mich zurückziehen, aber Papa wollte unbedingt wissen, was ich bei Mr. Carr in Erfahrung gebracht hatte, und so gab ich ihm einen kurzen Überblick.
»Das sind sehr ermutigende Nachrichten«, meinte Mr. Nicholls begeistert. »Wenn Sie in Manchester einen Chirurgen finden, der sein Handwerk versteht, Mr. Brontë, dann denke ich, wäre es einen Versuch wert.«
Papa stimmte ihm zu und schien sehr ermuntert. Ich ging meinen Bruder suchen, begierig darauf, ihm zu berichten, was ich herausgefunden hatte. Als ich ins Esszimmer eintrat, fand ich zu meiner Verzweiflung Branwell auf dem Boden neben dem Sofa liegend, Haar und Kleidung in größter Unordnung, wie er mit geschlossenen Augen unsinnige Worte vor sich hin brabbelte.
»Branwell!«, rief ich laut, beugte mich über ihn und rüttelte ihn an den Schultern. »Wach auf! Ich muss dir etwas sagen!« Er nahm keinerlei Notiz. »Branwell! Kannst du mich hören? Ich habe mit einem Chirurgen gesprochen. Ich habe sehr ermutigende Nachrichten über Papas Krankheit.«
Diese Mühe hätte ich mir sparen können. Branwell kicherte nur blöde, hatte wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass ich ins Zimmer gekommen war. Wie, fragte ich mich, hatte er es nur geschafft, Geld für Alkohol aufzutreiben? Papa hatte ihm monatelang jegliche Geldmittel verweigert.
Ich hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Dann vernahm ich Emilys und Annes Stimmen und Lachen, während sie schnellen Schrittes ins Haus eilten und sich über die Auswirkungen eines plötzlichen Regenschauers beschwerten. Wir umarmten einander im Flur und beklagten, dass wir uns auf der Straße verpasst hatten. Ich berichtete ihnen von Branwells gegenwärtigem Zustand und fragte, was geschehen sei.
»Branwell hat Papa heute Morgen einen Sovereign abgeschwatzt, und zwar unter dem Vorwand, er müsse eine dringende Schuld begleichen«, antwortete Emily angewidert, während Anne und sie sich ihrer völlig durchnässten Umhängeund Hauben entledigten. »Er ist sofort losgezogen und hat ihn in einer Gastwirtschaft ausgegeben, wie nicht anders zu erwarten war.«
Ich seufzte. »Ich hatte befürchtete, dass so etwas geschehen könnte, sobald ich nicht hier bin.«
»Du hättest es kaum verhindern können, Charlotte«, meinte Anne. Emily stimmte ihr zu. »Papa hofft immer noch, dass sein ›Junge‹ sich eines Tages bessert – aber Branwell ist unaufrichtig und schlau. Er hat Papa an seinem schwächsten Punkt getroffen; du weißt doch, was Papa davon hält, wenn man Schulden nicht zurückzahlt.«
»Es ist wirklich zu schrecklich«, sagte ich.
Emily schüttelte traurig den Kopf. »Branwell ist ein hoffnungsloser Fall.«
In diesem Augenblick hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich fuhr erschrocken herum und sah Branwell auf der Schwelle des Esszimmers stehen, als wäre er von den Toten auferstanden. Er blinzelte mich überrascht aus blutunterlaufenen Augen an. »Schau, schau, wer ist denn da nach Hause gekommen?«, nuschelte er. »Wenn das mal nicht Charlotte, die Schlampe, ist.«
Ich erstarrte, entsetzt über diesen unerwarteten und äußerst beschämenden Angriff. Branwell sagte und tat gewöhnlich die fürchterlichsten Dinge, wenn er betrunken war, aber nie zuvor hatte er mich so beschimpft.
»Ich habe ja während deiner Abwesenheit die interessantesten Neuigkeiten erfahren«, fuhr er fort. »Es scheint, dass ich nicht der Einzige in diesem Haushalt bin, der sich nach einer abwesenden, geliebten Person verzehrt.«
Diese Worte machten mich vollends sprachlos. Anne hielt vor Erstaunen die Luft an.
»Branwell, lass das!«, warnte ihn Emily.
»Lass was? Ich soll nicht über Charlottes großes Geheimnisreden?« Zu mir gewandt, sagte er: »Emily hat mir alles erzählt. Du schreibst Briefe an deinen Professor in Brüssel und vergießt beim Abendessen bittere Tränen.«
»Branwell«, rief Emily und warf mir einen Entschuldigung heischenden Blick zu. »Du hast völlig missverstanden, was ich dir zu sagen versucht habe.«
»Oh, ich habe das nur zu gut verstanden«, erwiderte er langsam. »Eines verstehe ich dagegen nicht, meine liebe Charlotte. Warum hast du mich so streng
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