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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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hatte ich große Angst, und doch konnte ich nicht anders, ich musste weinen.
    Emily sagte streng: »Monsieur, Sie gehen zu weit. Meine Schwester und ich, wir geben uns wirklich alle Mühe. Es ist gar nicht nett, sie zum Weinen zu bringen.«
    Monsieur Héger schaute mich an, sah den großen Schmerz, den er mir zugefügt hatte, und stieß einen tiefen Seufzer aus. »
Allons, allons «
, sagte er dann, und seine Stimme klang nun leise und bescheiden. »Ich bin gewiss ein Monster und ein Grobian. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung entgegen und auch mein Taschentuch.« Er zog besagten Gegenstand aus der Tasche seines Paletots und hielt ihn mir hin. Ich griff mit Anstand danach und wischte mir damit die Augen.
    »Ich weiß jedoch eine Lösung für dieses Dilemma, denke ich«, sinnierte er. Er schaute die Titel seiner Bücher, eine riesige Sammlung, die die Bibliotheksregale vom Boden bis zur Decke anfüllte. »Sie sind beide zu weitaus mehr fähig als zu diesen langweiligen Übersetzungen und Wortstudien. Wir wollen es mit Aufgaben für fortgeschrittene Schülerinnen versuchen.« Er wählte einen Band aus. »Ich werde Ihnen ab jetzt jede Woche eine ausgewählte Passage aus den besten Werken der französischen Literatur vorlesen. Wir werden jedes einzelne Stück gemeinsam analysieren, und dann werde ich Sie bitten, einen Aufsatz in einem ähnlichen Schreibstil zu verfassen.«
    Emily zog die Stirne kraus. »Worin liegt der Nutzen dieser Übung, Monsieur? Wenn wir andere kopieren, verlieren wir doch jegliche Originalität in Gedanken und Ausdruck.«
    »Ich habe nicht ›kopieren‹ gesagt!«, widersprach Monsieur Héger heftig. »Ich sagte, dass Sie in ähnlichem Stil schreiben sollen, wenn auch über ein völlig anderes Thema und in hinreichend anderer Art, sodass stures Kopieren unmöglich wird. Wenn Sie das machen, dann entwickeln Sie mit der Zeit einen eigenen Stil. Ich habe diese Methode schon bei meinen fortgeschrittenstenund fähigsten Schülerinnen erprobt, kann ich Ihnen versichern, und sie zeitigt stets hervorragende Ergebnisse.«
    »Über welches Thema sollen wir schreiben, Monsieur?«, fragte ich.
    »Über ein Thema, das Sie selbst wählen. Ehe man sich hinsetzt und über ein bestimmtes Thema schreibt, ist es nötig, sich Gedanken dazu zu machen und sich darüber klar zu werden, welche Gefühle es in einem auslöst. Ich kann nicht sagen, welche Themen Ihre Herzen und Gedanken bewegen. Das muss ich Ihnen überlassen.«
    Ich verwendete viel Zeit auf diesen ersten Aufsatz und gab ihn voller Stolz ab. Ich glaubte, dass meine wirkliche Begabung im Schreiben von Prosa lag, und hoffte, dass ein solcher Versuch – selbst in unvollkommenem Französisch – mir endlich einmal ein Lob von Monsieur Héger einbringen würde. Zu meinem Entsetzen hatte meine Arbeit genau die gegenteilige Wirkung.
    »Was ist das für ein nichtssagendes Stück Unsinn, das Sie einen Aufsatz nennen?«, knurrte Monsieur Héger eines Nachmittags nach der Schreibklasse und schleuderte mein fehlerhaftes Werk vor mir auf den Tisch. »Was ist das für eine Unmenge sentimentaler Gefühle! Was für ein Sperrfeuer überflüssiger Metaphern und Adjektive! Sie haben Ihrer Phantasie erlaubt, mit Ihnen durchzugehen, Mademoiselle, als sei es das Ziel des Schreibens, die größtmögliche Anzahl von Wörtern zu Papier zu bringen.«
    Meine Wangen brannten ob dieser harschen Kritik, und meine Beschämung war nur umso vollkommener durch das belustigte Kichern, das seine Worte bei den wenigen anderen Mädchen hervorriefen, die das Schulzimmer noch nicht verlassen hatten. »Es tut mir sehr leid, dass Sie meine erstenBemühungen so langweilig und Ärgernis erregend finden, Monsieur. Ich versuche nur, mein Bestes zu geben.«
    »Das ist nicht Ihr Bestes.« Er sah mich über meinen Tisch hinweg an, und die Quaste seiner Kappe beschattete seine linke Schläfe. »Ich sehe, dass Sie eine überreiche Phantasie besitzen, Mademoiselle Charlotte. Sie haben Weitblick! Sie haben Talent! Aber Sie haben überhaupt kein Gespür für Stil. Daran werden wir arbeiten müssen, sehr hart arbeiten müssen.«
    »Ich möchte wirklich sehr gern besser werden, Monsieur. Sagen Sie mir eines: Was soll ich tun?«
    »Lesen Sie meine Kommentare, Mademoiselle. Nehmen Sie sie sich zu Herzen.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
    Ich schlug mein Heft auf, um zu lesen, welche Kommentare Monsieur Héger an den Rand geschrieben hatte. Mein armer kleiner Aufsatz sah aus, als sei er in einen

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