Die Geheimnisse der Therapeuten
mit dem Tod verbundene Mythen. Der Homo sapiens hat immer versucht, für all die seltsamen Phänomene, die ihn umgaben, das Ãbernatürliche und die feindliche Umwelt, Erklärungen zu finden: beispielsweise für Krankheiten, den Tod, das Sterben eines Angehörigen, Naturkatastrophen, Gewitter, Ãberschwemmungen, Brände oder die Ãberfälle von Raubtieren. Um sich dagegen zu schützen, suchte er nach Erklärungen, nach nachvollziehbaren Ursachen und nach dem »Warum«. Er suchte auf diese Weise Halt in magischen Ãberzeugungen und in übernatürlichen Kräften.
Da der Mensch weiÃ, dass er sterben muss, schuf er ein Jenseits, das angeblich von den Verstorbenen, von all unseren Vorfahren und wie manche auch glauben, vom Teufel, von Dämonen und magischen Mächten bevölkert wird.
Gestrige Ansichten und individuelle Ãberzeugungen
Pascal Boyer 38 hat in glänzender Weise die Geburt von Mythen und Legenden beschrieben. All diese Vorstellungen haben eine umso gröÃere Chance, beibehalten zu werden, je mehr sie der Logik entbehren, das heiÃt im Widerspruch zur alltäglichen Erfahrung stehen. Es gibt unzählige Beispiele: sprechende Bäume oder Tiere â der Animismus â, was nicht unglaubwürdiger ist als ein Mensch, der auf dem Wasser wandelt, oder ein Reiter, der mit seinem Ross gen Himmel steigt. Diese Legenden, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, bildeten die Grundlage der Religionen. Scott Atran 39 hat das paradoxe Wesen dieser Ãberzeugungen hervorgehoben. Wie kann man sie von Geschichten für Kinder unterscheiden? Das ist das sogenannte Micky-Maus-Problem : Aufgrund welcher emotionalen Faktoren kann man Micky Maus von all diesen Mythen und Göttern unterscheiden, für die einige Menschen bereit sind zu sterben?
38 Siehe Pascal Boyer.
39 Siehe Scott Atran.
Die Erforschung der realen Ursachen des Lebens, der »sekundären Ursachen«, wie Claude Bernard sie nennt, ist noch ganz jung; sie ist gerade einmal etwas über hundert Jahre alt, was ein sehr kurzer Abschnitt in der Menschheitsgeschichte ist. Was man in dieser Zeit begriffen und in die Tat umgesetzt hat, ist bei genauerem Hinsehen wirklich unglaublich und fantastisch. Viele dieser Fortschritte wären vor zehn oder zwanzig Jahren noch für Science-Fiction gehalten worden.
Rationale Interpretationen sind möglich. Wir müssen den Tod heute als biologisches Phänomen von entscheidender Bedeutung betrachten, das in der Geschichte der Evolution der Arten unvermeidlich ist. Seit der Herausbildung mehrzelliger Lebewesen, die sich sexuell fortpflanzen, bestanden diese immer aus zwei Teilen:
â Zum einen aus Keimzellen, die die nichtsterblichen Gene enthalten â das »egoistische Gen« von Richard Dawkins 40 ; sie geben das Leben und die Eigenschaften der Art weiter.
40 Richard Dawkins: Das egoistische Gen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996.
â Zum anderen aus Körperzellen, die eine vorübergehende Hülle bilden, das heiÃt, aus Materie, die dazu dient, die Weitergabe des Genoms zu sichern, um dann abzusterben.
Damit ist die objektive Bedeutung des Todes geklärt. Der Glaube, dass wir nach dem Tod ganz oder mit einem Teil von uns weiterleben, ist eine persönliche Angelegenheit, wie auch jene fundamentalen Ãberzeugungen, bei denen es niemals einen Beweis dafür oder dagegen geben wird:
â Der Glaube, dass es Gott gibt, entweder bei den Anhängern einer Religion oder bei denen, die keiner Religion folgen, den Deisten.
â Der Agnostizismus, die Haltung: »Ich weià es nicht.«
â Der Atheismus, demzufolge es keinen Gott gibt â wozu ich tendiere.
Das alles gehört zum Gebiet der Leidenschaften und nicht der Vernunft, sagte Jean Hamburger. 41
41 Jean Hamburger: La Raison et la Passion. Seuil, Paris 1984.
Der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist selbstverständlich mit Religiosität verknüpft und bei zwei Dritteln der Gläubigen vorhanden, lässt sich jedoch auch bei 20 Prozent der Agnostiker finden und selbst vereinzelt bei Atheisten. Unter Menschen, die sich als religionslos bezeichnen, hängt jeder Zweite an religiösen Zeremonien â Hochzeit, Beerdigung etc. Ein Drittel glaubt an eine geistige Kraft und ein Zehntel sogar an das Paradies oder die Hölle laut Le Monde des religions. 42 Das bezeugt den Einfluss der jüdisch-christlichen Kultur ebenso wie den
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