Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
Besondere an dem Schneeball war, dass er nicht allein aus der Eiszeit kam, sondern von einem Zeitpunkt, der mindestens einen Tag
vor
Tyler Jenkins’ Besuch in dieser verschneiten Welt lag. Colin wusste das, weil er das Kontinuaskop exakt eingestellt hatte, und als er danach an derselben Stelle wie beim ersten Experiment aus der Verwerfungsspalte gekommen war, hatte es
keine
Spuren gegeben, weder von ihm noch von Tyler.
Ich hab’s geschafft, das Kontinuaskop funktioniert!
Colin hätte vor Freude am liebsten gelacht und getanzt.
Ich habe es eingestellt, und es hat mich genau dort hingebracht, wo ich hinwollte!
Selbst der alte Octavio hätte zugeben müssen, dass Colin Needle es verdiente, der neue Besitzer des Kontinuaskops zu sein.
Doch während er die zusammengepresste weiße Kugel betrachtete, sah er, dass das Taschentuch dunkle Flecken bekam: Der Schneeball begann zu schmelzen, und das durfte nicht sein. Er hatte vor, ihn als Symbol seiner Beherrschung des Kontinuaskops in der Tiefkühltruhe aufzubewahren – sein erster Schritt auf dem Weg dahin, seinen rechtmäßigen Platz als Herr der Ordinary Farm einzunehmen.
Er schlug den Schneeball wieder in sein Taschentuch ein |310| und steckte ihn vorsichtig in die Jackentasche zurück, dann eilte er die Treppe hinauf.
Der Regen fiel wie aus Eimern, als er das Silo verließ, und schlug ihm immer wieder die Kapuze vor die Augen, als er zum Haus zurückeilte, doch unter seiner Jacke schwitzte Colin bereits. Für die Eiszeit war sie prima gewesen, aber für einen Sommerabend im Standard Valley war sie selbst bei Regen viel zu warm. Aber das registrierte er kaum. Er grübelte schon darüber nach, an welchen Ort er als nächstes gehen wollte – oder eher in welche Zeit, denn er tat sich leichter damit, die zeitlichen Koordinaten einzustellen als diejenigen, die die räumliche Lokalisierung regelten. Musste er die Verschiebungen der Kontinente im Laufe der Zeit berücksichtigen? Das konnte bedeuten, dass er ein kompliziertes Computerprogramm finden oder selbst schreiben musste. Freilich, wenn das Ergebnis war, dass er ins alte Ägypten reisen konnte, um dem Bau der Pyramiden beizuwohnen, oder vor die Mauern Trojas, um Achills Kampf gegen Hektor mitzuverfolgen, dann war es das wert.
Er überlegte gerade, ob er wohl eine Videokamera mit in die Vergangenheit nehmen und ob er daraus irgendwie Geld schlagen konnte – vielleicht wenn er eine Doku über echte Dinosaurier drehte und als Animation ausgab –, als er merkte, dass etwas nicht stimmte. Das Gewitter war im Abklingen, auch wenn er um die Berge im Westen herum noch Blitze und schwarze Wolken sah, und das Gelände zwischen dem Silo und der Auffahrt war leer bis auf einen Traktor, der beim Ausbruch des Unwetters dort stehengelassen worden war. Bei näherem Hinsehen fiel ihm auf, dass eine stattliche Schar von Bodentieren durch den Matsch kroch und krabbelte, als ob |311| der Regen sämtliches Kleingetier aus seinen Bauen gespült hätte. Es war ein sonderbarer Anblick, erklärte aber noch nicht, warum er deutlich das beunruhigende Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Er blieb stehen und spähte zum fernen Haus hinüber, doch obwohl er Lichter in den Fenstern und in zwei Zimmern hinter den Vorhängen Bewegungen wie von menschlichen Gestalten sah, konnte er sich nicht vorstellen, dass ihn dort jemand hier draußen im Dunkeln erkennen konnte. Er ging ein paar Schritte weiter, als plötzlich der Wind drehte und ihn ein neuer Geruch anwehte, scharf und sauer wie Essig.
Verdutzt wandte Colin sich um und blickte zum Silo zurück. Etwas kam um das hohe alte Gebäude gebogen und ging mit langsamen, bedächtigen Schritten auf allen vieren auf ihn zu. Ein Tier. Ein richtig großes Tier. Während Colin es anstarrte, hob es den Kopf, als ob es ihn jetzt erst bemerkte, und die Lichter des fernen Hauses spiegelten sich rötlich in seinen großen Augen, so dass es aussah, als wären es Fenster und als würde in dem flachen Schädel eine Flamme brennen.
Einer der Mantikore lief frei herum.
Colin wimmerte ängstlich, wirbelte herum und lief ein paar Schritte auf das Haus zu, doch behindert von seinem Rucksack und der unförmigen Jacke verlor er das Gleichgewicht. Er rutschte im Matsch aus, stürzte auf die Knie und kam trotz heftigen Strampelns nicht gleich wieder hoch. Im sicheren Glauben, das hellbraune, grauenhaft menschenähnliche Gesicht direkt über sich zu sehen, blickte er sich um, doch der Mantikor hatte sein Tempo nicht
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