Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
beschleunigt, als wüsste er, dass Colin ihm nicht entkommen konnte. Und das Monster hatte recht: Bis zum Haus waren es mindestens hundert Meter, und Colin wusste, dass er unmöglich schneller laufen konnte als die Bestie. Wieder wimmerte er. Das Untier kam |312| näher, aber jetzt sah er, dass irgendetwas damit nicht stimmte. Sein Kopf wackelte leicht hin und her wie Gideons, nachdem er die Arznei von Colins Mutter genommen hatte, und seine Schritte wirkten unbeholfen, als hätte er sich verletzt. Dennoch hielt er weiter auf Colin zu, langsam, aber unerbittlich. Colin rappelte sich auf und lief erneut los, aber er trat auf etwas, das nass unter seinem Fuß zerplatzte, und fiel wieder hin. Sein Rucksack mit dem kostbaren Kontinuaskop rutschte ihm über die Arme, und hektisch versuchte er, ihn abzustreifen. Als er sich endlich befreit hatte, war das Monster nur noch wenige Meter entfernt. Noch einmal kam Colin hoch, doch er wusste, dass es zwecklos war. Selbst wenn er jetzt loslief, hatte es ihn in einer Sekunde geschnappt. Das Haus war unerreichbar weit weg.
Es blitzte, und in den Augen des Mantikors blitzte es auch. »Hilfe!«, schrie Colin. »Hilfe! Walkwell! Mutter!« Aber der Donner übertönte seine Schreie. Er griff sich eine Handvoll Schlamm und warf sie nach der Bestie, doch sie klatschte nur harmlos auf die ohnehin schlammbeschmierten Beine. Er sah die scheußlichen gelben Zähne in dem sabbernden Maul, die affenartigen Nüstern, die sich blähten, als sie seinen Geruch einsogen.
»Geh weg!«, kreischte er. »Lass mich in Ruhe!« Seine Hand ertastete den eingewickelten Schneeball, und er warf ihn mitsamt dem Taschentuch und traf den Mantikor direkt auf die Schnauze. Der Schneeball zerstob in einer weißen Wolke. Kopf und Hals der Bestie zitterten und wackelten weiter, doch ansonsten zeigte sie keinerlei Reaktion. Das Taschentuch verfing sich kurz an der borstigen Wange, dann glitt es ab und flatterte im auffrischenden Wind davon.
Das Maul zu einem Grinsen verzerrt, die Augen wie Laternen leuchtend, so schlurfte das Ungeheuer heran.
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DIE NASE VOLL
L ucinda konnte sich nicht erinnern, jemals im Leben so viel Angst gehabt zu haben, und dabei war sie ein Mädchen, das kopfüber an einem wütenden Drachen in der Luft gehangen hatte. Aber die Nacht, in der sie an Meserets Fesseln gebaumelt hatte, war so aberwitzig gewesen, so verrückt, dass sie es selbst währenddessen nicht hatte glauben können. Hier war es anders. Ein abgrundtief böser Mann hielt ihr ein Messer an die Kehle, ein Mann, der bestimmt nicht zögern würde, sie zu töten, wenn es ihm nutzte. Und zu allem Überfluss roch er auch noch abscheulich nach Schweiß und kaltem Tabakrauch, als ob er seit langem die Sachen nicht mehr gewechselt hätte. Ihr graute bei dem Gedanken, sich übergeben zu müssen und ihn durch das Würgen zu einer unkontrollierten Reaktion zu |314| provozieren. »Bitte tun Sie mir nichts«, flüsterte sie. »Ich werde nicht schreien oder weglaufen.«
»Das ist gut«, erwiderte er genauso leise. »Denn ich will hören, was die kleine Patience sagt.« »Die kleine Patience« war natürlich Mrs. Needle, die drinnen über Gideon Goldrings Krankenbett hinweg Stillman mit seiner Pistole fixierte. Gideon zerrte an seinen Fesseln, aber seine Augen blickten ins Leere und er schien kaum mitzubekommen, was sich unmittelbar vor ihm abspielte. Der Anwalt Dankle, der anscheinend jeden gegen jeden vertrat, drückte sich neben der Tür an die Wand und machte sich so unsichtbar, wie es ging.
»Gott«, hörte Lucinda Stillman sagen, »ich habe beinahe Mitleid mit Gideon Goldring, und das hätte ich im Leben nicht für möglich gehalten. Wie muss es wohl sein, eine Natter wie Sie zur Hausangestellten zu haben, Mrs. Needle? Bestimmt eine echte Herausforderung.«
»Ich habe mich immer für Gideon und seine Bedürfnisse aufgeopfert.« Mrs. Needle schien sehr darauf bedacht zu sein, nicht auf Stillmans Pistole zu schauen. Lucinda fragte sich, wie viel die Hexe über moderne Waffen wusste – schließlich war sie vor fünfhundert Jahren geboren worden. Einen Moment hoffte Lucinda beinahe, sie würde eine Gegenwehr versuchen und dabei erschossen werden. »Aber die Entwicklung hier hat einen Punkt erreicht, wo Gideon die Farm einmal zu oft aufs Spiel gesetzt hat«, fuhr sie mit ihrer ruhigen, sachlichen Stimme fort. »Einige von uns … einige von uns können nirgendwo anders hin.«
»Jaja, sehr traurig. Suchen Sie sich jemand anders,
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