Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
auf meinem Schreibtisch in einem Kuvert liegen. Wären Sie so gut, es mir zu holen, damit wir hier vorankommen? Gideon braucht bald seine Ruhe.«
Zur allgemeinen Überraschung meldete sich Gideon selbst mit einer ganz kratzigen, kehligen Stimme, die klang, als ob er den Mund voll Erde hätte. »Ich muss … ich will … tut weh …!«
»Der Ärmste«, sagte Mrs. Needle und strich Gideon über den Kopf wie einem kranken Hund. »Würden Sie das für mich tun, Mr. Kingaree? Sie sehen ja, dass er schlafen muss.«
Während der lange Mann aus dem Zimmer ging, ballte Lucinda unwillkürlich die Fäuste. Diese Needle war wirklich in jeder Beziehung eine Hexe! Lucinda hatte noch nie im Leben so einen Drang verspürt, jemanden zu schlagen. Sie war so wütend, dass sie im ersten Moment gar nicht merkte, wie Ed Stillman neben ihr von der Flurgarderobe rutschte. »Was machen Sie?«, flüsterte sie.
»Was wohl?«, fauchte er zurück. »Diese Komödie augenblicklich beenden, das mache ich.«
|304| Schon war Stillman abgestiegen und schritt viel schneller, als sie es einem Mann von annähernd Gideons Alter zugetraut hätte, den Flur hinunter in Richtung Küche. Bis sie leise und vorsichtig vom Stuhl gestiegen war, war er schon fort.
Was hat er vor? Will er jemanden erschießen?
Sie hoffte, er würde sich im Haus verlaufen wie so viele beim ersten Besuch, doch dann fiel ihr ein, dass Stillman in jüngeren Jahren viel Zeit hier verbracht hatte.
An der Treppe angekommen, hörte Lucinda die alten Holzdielen knarren: Stillman oder jemand anderes? Kingaree? Kam er oder ging er? In ängstlicher Unentschlossenheit versteckte sie sich in letzter Sekunde in einer Besenkammer und hielt die Tür zu. Die Schritte hielten neben ihrem Versteck an, und Lucinda schlug das Herz bis zum Hals. Dann stiegen die Schritte langsam und schwerfällig die quietschenden Stufen hinauf. Als sie verklungen waren, streckte Lucinda den Kopf heraus, um sich zu vergewissern, dass der Flur leer war, und hastete dann auf die Küche zu. Als sie durch die Schwingtür trat, hätte sie beinahe Azinza umgestoßen.
»Lucinda!« Die hochgewachsene Frau trat zurück und hob wie abwehrend die Hände. »Was machst du denn hier? Du sollst doch nicht hier im Haus sein. Geh fort, bevor sie dich findet!« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Wie bist du hergekommen?«
»Ist doch egal.« Offenbar hatte Azinza Stillman nicht gesehen. Auf den Zehenspitzen stehend schlang Lucinda die Arme um die Afrikanerin und küsste sie auf die Backe. »Ach, du hast mir so gefehlt! Und Pema und Sarah auch!«
Azinza lächelte und setzte an, etwas zu sagen, dann legte sie lauschend den Kopf schief. »Da kommt jemand. Könnte
sie
sein. Geh, beeil dich!«
Lucinda widersprach nicht. Sie winkte Azinza und lief |305| durch die Hintertür zur Küche hinaus. Ein Donnerschlag ließ sie erstarren. Sie blickte hinaus auf das dunkle Meer des Gartens und, auch wenn sie es nicht sehen konnte, auf die einsame Insel, die das alte Treibhaus darin bildete.
Niemals. Ich werde nie mehr in die Nähe von diesem Ding gehen.
Durch das Grollen des Gewitters hindurch wehte ein anderes Geräusch auf sie zu. Erst nach einer Weile erkannte sie, dass es in ihrem Kopf war.
Angst! Möhrenmädchen, Hilfe! Angst!
Desta! In der ganzen schrecklichen Zeit mit Stillman hatte sie beinahe die junge Drachin vergessen.
Ich bin hier,
dachte sie, so deutlich sie konnte.
Desta, ich bin hier! Ich komme, sobald ich kann!
Aber nicht jetzt, sagte sich Lucinda. Es wäre Wahnsinn, im Dunkeln über das weitläufige Farmgelände zu gehen, ohne zu wissen, wer oder was sich dort draußen herumtrieb. Nein, auch wenn es ihr Gewissensbisse machte, Desta würde warten müssen.
Stattdessen schlich sie an der Vorderseite des Hauses entlang, wobei sie die Blumenkästen und Vorsprünge der verwinkelten Fassade als Deckung nutzte. Aus der Ferne trug der Wind unheimliche Tierstimmen heran, und zu ihren Füßen wimmelte es von Insekten, Schlangen und sogar aus der Erde gekrochenen Regenwürmern, allesamt unterwegs zum hinteren Ende des Hauses, als wollten sie unbedingt der Einladung zu einer Galaparty folgen. Die Szene war so ähnlich wie neulich am Treibhaus, aber jetzt spielte sie sich hier ab, mehrere hundert Meter entfernt!
Halt, Lucinda!,
sagte sie sich.
Immer schön der Reihe nach. Im Augenblick hast du es mit einem bewaffneten Mann, einer gefährlichen Hexe und einem unzurechnungsfähigen Großonkel zu tun, das reicht für den Anfang.
Wasser
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