Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
dem Sie das erzählen können.« Stillman schwenkte die Pistole, als wäre diese ein Laserpointer und sie hätten lediglich eine Meinungsverschiedenheit während einer Geschäftspräsentation. »Diese Farm gehört meiner Familie – mit anderen Worten, |315| mir. Die Geschichte, dass Gideons Frau durchgebrannt sein soll, ist ein Ammenmärchen. Ich kannte Grace Tinker von klein auf. Sie hat Gideon geliebt, so sehr einen das erstaunen mag. Sie hätte ihn nicht verlassen.«
»Unsere Ziele sind nicht so verschieden, Mr. Stillman.« Mrs. Needle schaute immer noch nicht auf die Pistole, sie schaute vielmehr Edward Stillman mit einer Intensität an, wie Lucinda sie noch nie gesehen hatte, beinahe wie ein Hypnotiseur in einem alten Film. »Sie wollen das Beste für dieses Anwesen. Das will ich auch. Vielleicht … vielleicht könnten wir eine einvernehmliche Lösung finden.«
Draußen vor dem Fenster packte Kingaree Lucinda mit noch härterem Griff und beugte sich noch näher heran, bis seine Lippen ihr Ohr berührten und ihr Tränen der Furcht in die Augen traten. »Hör nur, wie diese kleine Schmeißfliege mich ausbooten will«, knurrte er. »O ja, eine schöne Fassade, die hat sie, aber dahinter stinkt es zum Himmel. Ich hätte wissen müssen, dass sie nicht im Traum daran denkt, ihre ganzen Versprechungen einzuhalten.«
Direkt über ihnen krachte der Donner, und Lucinda stieß einen Schreckenslaut aus. Wieder regnete es dicke Tropfen. Einer platschte ihr auf die Stirn, doch mit der scharfen Klinge am Hals wagte sie nicht, sich zu bewegen.
Stillman lachte. »Was ist mit Ihrem Cowboyfreund, wer immer das sein mag? Haben Sie aus dem schon alles rausgeholt, was er hergibt?«
»Bitte, Mr. Stillman …«, begann Barnaby Dankle, aber niemand beachtete ihn.
»Kingaree? Der ist gar nichts«, sagte Mrs. Needle. »Ein Killer, ein gewöhnlicher Verbrecher. Ich habe ihn nur hinzugezogen, um sicherzugehen, dass weder Gideon noch Mr. Dankle auf dumme Gedanken kommen.«
|316| »Sie ist wirklich die Königin des Betrugs!«, zischte Kingaree, und der Messerdruck verstärkte sich noch. Aber obwohl sie vor Furcht fast verging, fragte sich Lucinda, ob sie die Einzige war, der Gideons Verhalten auffiel. Ihr Großonkel, der von dem Geschehen um ihn herum immer noch nichts mitzubekommen schien, hatte einen seiner dürren Arme aus der Fesselung befreit und zupfte jetzt am anderen, den Mund aufgerissen, das Gesicht zu einer Fratze des Schmerzes oder der Wut oder beides verzerrt.
»Ähm, Mr. Stillman!« Dankle hatte jetzt Gideons Befreiungsversuche bemerkt. »Mr. Stillman, ich glaube …«
»Halt’s Maul, Mann!« Aber Edward Stillmans zorniger Ausruf ging in einem erneuten, noch lauteren Donnern unter. Ein Blitz ließ den Himmel erstrahlen und es donnerte wieder, so laut, dass Lucinda jede andere Gefahr darüber vergaß.
Dann passierten mehrere Dinge hintereinander. Als erstes explodierte das Haus.
Lucinda erkannte hinterher, dass es nur ein Blitz gewesen war, der in den Blitzableiter auf dem höchsten Türmchen gefahren und durch die Erdung in den Boden geschossen war, aber der Knall war so laut und die Druckwelle der heißen Luft so stark, dass es sich mehr wie eine Bombenexplosion anfühlte.
Mit einem Schlag fiel überall der Strom aus. Die Lichter im Schlangenzimmer und im übrigen Haus und die an Kabeln zwischen den Farmgebäuden hängenden Lampen erloschen alle gleichzeitig, schwarze Nacht hüllte alles ein. Lucinda hörte, wie Stillman in dem pechschwarzen Zimmer etwas schrie und Mrs. Needle ebenfalls, aber sie konnte nichts verstehen, weil Jackson Kingaree sie vom Fenster fortschleifte und dabei Flüche ausstieß, die sie noch nie gehört hatte. Sie sah hinter dem Fenster etwas aufflammen und hörte erst |317| einen lauten Knall und dann einen Mann vor Schmerz aufschreien.
»Wo ist Gideon?«, rief Mrs. Needle, durchaus nicht ängstlich, sondern eher empört. »Ihr Idioten! Er ist entwischt!«
Draußen in der Dunkelheit erstarrte Kingaree wie ein jagendes Raubtier, den Arm weiter um Lucindas Hals. »Keinen Laut, Kleine, oder ich schwöre, ich murkse dich ab«, flüsterte er. »Du bist der Fahrschein, mit dem ich hier rauskomme und …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende. Lauter Lärm und weitere Schreie erschollen vom Ende der Auffahrt, ungefähr von dort, wo Stillman seinen Wagen und seine Leibwächter zurückgelassen hatte. Das Bummern und Kratzen und die panischen Männerstimmen wurden noch lauter. Es hörte sich an, als
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