Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
Nordmann. »Es gab mindestens drei, vielleicht vier, die ganz wacklig auf den Beinen waren. Ich fürchte, es geht eine Krankheit unter ihnen um.« Ragnar erklomm mit seinem Fernglas die nächste Anhöhe, um die Fohlen genauer betrachten zu können. Er wirkte besorgt, und mit gutem Grund: Falls ein Seuche die Herde befallen hatte, konnten sämtliche Einhörner sterben, die es noch auf der Welt gab. Bei der Vorstellung, so viel Schönheit könnte einfach ausgelöscht werden, traten Lucinda Tränen in die Augen.
»Vielleicht wird demnächst Poseidon die Erde erschüttern«, bemerkte Walkwell zu Ragnar. »Das jagt vielen Geschöpfen Angst und Schrecken ein. Oft spüren Tiere lange vor den Menschen, was die Götter sinnen.«
|125| »Die Götter! Na klar, das muss alles ihr Werk sein.« Colin feixte, während er das sagte, aber Lucinda war nicht so skeptisch. Schließlich war der Verwalter der Farm ein Faun oder Satyr oder wie das hieß, jedenfalls ein Wesen, das gar nicht existieren dürfte. Konnten da Zeus und die anderen griechischen Götter nicht genauso real sein?
»Meinst du wirklich, dass die Götter böse auf uns sind?«, fragte sie.
Simos Walkwell warf ihr einen grimmig belustigten Blick zu. »Auf irgendetwas sind die Götter immer böse.«
»Was sollen wir den Carrillos über Gideon erzählen, wenn wir da sind?«, fragte Lucinda, als Ragnar endlich wieder vom Hügel herunter zum Wagen marschiert kam.
»Ihr? Gar nichts«, antwortete Walkwell. »Ich werde selbst mit Hector Carrillo sprechen. Falls sonst jemand Fragen stellt, sagt ihr, dass Gideon fort ist, mehr wisst ihr nicht und mehr könnt ihr deshalb nicht sagen.«
»Das geht die sowieso nichts an«, sagte Colin. »Diese Leute wissen eh schon zu viel über unsere Farm. Sagt ihnen gar nichts.«
Tyler neben ihr richtete sich auf. »Das ist nicht deine Farm, Needle. Sie gehört Onkel Gideon.«
»Du hast leicht reden, Jenkins. Du bist hier nur zu Besuch.«
Lucinda hörte den echten Kummer in Colins Stimme, und sie wunderte sich. Der ältere Junge klang richtig bedrückt, ja ängstlich. Tyler war sich so sicher, dass Colin und seine Mutter nichts Gutes im Schilde führten – aber vielleicht irrte er sich ja.
|126| Ragnar und Walkwell unterhielten sich vorn auf dem Bock, aber so leise, dass Lucinda kaum das Gemurmel ihrer Stimmen von dem unablässigen Zirpen der Grillen im hohen Gras unterscheiden konnte. Nachdem der Wagen fast eine halbe Stunde lang gemächlich in der Hitze dahingerumpelt war, die auf ihnen lag wie eine schwitzende Hand, nickte Colin Needle ein, und auch Lucinda schloss die Augen und genoss die Wärme und das Schaukeln der Fahrt. So entspannt hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit Gideon vor einer Woche verschwunden war. Da redete plötzlich Tyler los, als setzte er ein angefangenes Gespräch fort, und Lucinda war sofort wieder hellwach.
»He, Ragnar, du hast doch gesagt, dieser Kingaree hätte das Labor abgebrannt, nicht wahr?«
Ragnar ließ ein Knurren hören. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Ich habe nur gesagt, dass er in der Nacht verschwand, in der Gideons Labor abbrannte.«
»Ach, und was macht dich so sicher, dass er es nicht war?«
Ragnar setzte zu einer Antwort an, aber da schaltete sich Walkwell ein. »Schluss mit dem Gerede«, sagte er. »Kingaree ist ein sehr schlechter Mensch, aber mit dem Brand hatte er nichts zu tun.«
So leicht wollte Tyler nicht aufgeben. »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß, dass Kingaree das Feuer nicht gelegt hat«, sagte Walkwell, »weil ich die Spuren des Täters gesehen habe.«
Colins Augen blieben geschlossen, aber Lucinda hatte den Eindruck, dass sich der Junge neben ihr auf einmal besonders still hielt, als ob er jetzt wach wäre und lauschte.
»Du hast Fußabdrücke gesehen?«, fragte Tyler leise.
»Ich sagte ›Spuren‹«, erwiderte Walkwell. »Prankenabdrücke mit Krallen, vom Drachen Alamu. Und die Asche, die übrig geblieben war, stank nach Drachenfeuer.«
|127| »Aber … aber … das ist das erste Mal, dass ich das höre!« Tyler klang über diese Neuigkeit ehrlich entrüstet.
»
Alamu hat das Labor abgebrannt? Warum hat uns das niemand gesagt?«
»Weil ich bis jetzt nicht darüber gesprochen habe, Tyler. Um Gideon zu schützen.«
Lucinda hörte, wie ihr Bruder innerlich kämpfte, um nicht zu platzen. »Entschuldige, aber das verstehe ich nicht.«
»Solange er dachte, Kingaree hätte das Kontinuaskop gestohlen, konnte Gideon glauben, er könnte es
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