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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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hatte sie in Shai Levins Labor unter einem Vergrößerungsglas auf der Gürtelspange des toten Mannes entdeckt.
    War er hier? Bin ich ihm auf der Spur?
    Die Zitadelle lag in einem Park, einer grünen Enklave, die sich über den Höhenrücken erstreckte, vor dem die Sava in die Donau mündete. Im Sommer wimmelte es hier von Touristen und Ausflüglern. Im Herbst kamen sonst nur Jogger und Leute, die ihre Hunde ausführten, doch an diesem Tag drängten sich Athleten mit Startnummern auf der Brust in einem von Metallgittern abgesperrten Bereich und warteten auf den Beginn des Rennens. Es hatten sich nur wenige Zuschauer eingefunden. Vor dem Parkeingang stand ein einsamer Eiscremeverkäufer neben seinem Wagen und las Zeitung.
    Hinter Plexiglas klemmten ein Wegeplan des Parks und eine kurze Geschichte der Zitadelle. «Kalemegdan heißt Burgplatz», las Michael. «Macht heute einen recht friedlichen Eindruck.» Er studierte die Karte. «Gruber will am Siegerdenkmal vor uns warten.»
    Sie folgten einem steinigen Pfad bis an das spitz zulaufende Ende des Höhenrückens, wo sich eine Aussichtsplattform hoch über der Sava breitmachte. Darauf stand eine weiße Säule, die eine kupfergrüne, schreitende Gottheit trug: über sechs Meter groß, nackt, mit absurd überdimensionierten Muskeln bestückt und lorbeerbekränzt. Die Klippe jenseits der Terrassenbrüstung fiel steil zum Fluss ab. Ein schwarzes Schild warnte auf Serbisch und Englisch: Vorsicht, Lebensgefahr!
    Gruber war nirgends zu sehen.
    «Ich warte vor dem Monument», sagte Michael. «Du hältst dich besser zurück, für den Fall, dass irgendetwas schiefläuft.»
    Abby stand an der Brüstung und blickte auf die Flussmündung hinab. Obwohl die Stadt anderthalb Millionen Einwohner zählte, hatte sie das Gefühl, den Charakter von Wildnis wahrzunehmen. Auf der einen Seite sah sie die Betonwohnhäuser von Novi Belgrad, den Verkehr auf den Brücken und die rostigen Auslegerkräne an den Docks; auf der anderen jenseits des Flusses breiteten sich weite Waldgebiete aus, die bis zum Horizont im Osten reichten. Sie konnte sich den römischen Wachposten durchaus vorstellen, hier, am Rand seiner Welt, über dem bleifarbenen Fluss, mit Blick über das rauchverhangene Tal auf den Wald, gefasst darauf, dass sich darin etwas regte.
    Sie schüttelte den Kopf, um sich von ihren Phantasien zu befreien. Zum Tagträumen war nicht die rechte Zeit. Sie schaute auf das Monument zurück. Michael stand dort, aber nicht allein. Er unterhielt sich mit einer jungen blonden Frau, die einen Kinderwagen schaukelte und über irgendetwas lachte. In der Ferne gab eine dröhnende Stimme über Lautsprecher letzte Instruktionen für das Rennen.
    Wieder schüttelte Abby den Kopf und versuchte, einen Anflug von Eifersucht abzuwehren. Michael fand schnell Anschluss. Selbst im Ausland und ohne ausreichende Sprachkenntnisse gelang es ihm, mit anderen ins Gespräch zu kommen, insbesondere dann, wenn sein Gegenüber jung, attraktiv und weiblich war.
    Er beugte sich über den Kinderwagen und zauste dem Kind darin vermutlich die Haare. Er sagte etwas zu der Frau, die lachend einen Schritt zurückwich und ihn mit einer Handbewegung scherzhaft tadelte. Immer noch lachend, winkte sie ihm zu und schob den Kinderwagen davon. Michael schaute über die Terrasse und sah Abbys Blick auf sich gerichtet. Er zuckte mit den Schultern und lächelte. Mach dir keine Sorgen.
    Hinter der Mauer in seinem Rücken tauchte plötzlich jemand auf – ein großgewachsener, dünner Mann in einem langen schwarzen Mantel. Er hatte walnussbraune Haut und einen dichten schwarzen Schnurrbart. Gruber. In der einen Hand hielt er einen Aktenkoffer, in der anderen einen Schirm. Nervös und mit steifen Schritten steuerte er auf Michael zu. Von Abby, die abseits vor der Brüstung stand, nahm er keine Notiz.
    Sie beobachtete die Szene außer Hörweite. Michael streckte lächelnd die Hand zum Gruß aus, doch Gruber behielt seine Hände in den Manteltaschen. Er sagte etwas. Michael nickte und lächelte immer noch. Er hob den blauen Beutel, den sie in einem Sportgeschäft gekauft hatten, und tätschelte ihn wie ein Pferd.
    Gruber wird es nicht wagen, das Geld in aller Öffentlichkeit zu zählen , hatte Michael vorausgesagt. Er wirft nur einen kurzen Blick darauf und sieht oben große Scheine und die kleineren darunter nicht; dass neunzigtausend fehlen, stellt er erst fest, wenn es zu spät ist.
    Gruber öffnete den Beutel und schaute hinein. Er runzelte

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