Die Geheimnisse der Toten
zu treffen war kaum möglich. Er riskierte es nicht zu schießen.
Die Terrasse war jetzt menschenleer und Abby allein mit dem Eismann. Er blickte auf sie herab. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und betete, dass er nicht wusste, wer sie war.
Er zögerte. Rufe hallten über die Terrasse. Sie klangen anders, nicht verstört und aufgebracht, sondern drohend. Abby blinzelte durch die Finger ihrer Hand.
Ein Soldat im Kampfanzug stand an der Zitadelle und zielte mit einem Gewehr auf den Eismann. Ein zweiter Soldat trat vor das Tor, ebenfalls mit einem Gewehr im Anschlag. Er kam näher. Einen verwirrten Moment lang sah sich Abby zwischen den Fronten eines Krieges. Die Legionäre kamen ihr in den Sinn, die hier im Altertum die Grenze gesichert hatten. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass in der Zitadelle ein Militärmuseum untergebracht war. Die Wachen hatten offenbar die Schüsse gehört.
Der Eismann warf seine Pistole über die Mauer und hob die Arme. Er machte einen gelassenen Eindruck, als habe er Szenen wie diese schon öfter erlebt. Er stand still, aber seine Lippen bewegten sich schnell. Abby schaute genauer hin und sah, dass in seinem Ohr eine silberne Hörmuschel mit Mikrophon steckte.
Er telefoniert. Abby ahnte, dass die Person, mit der er sprach, nicht weit entfernt war. Sie setzte sich in Bewegung, entfernte sich von ihm. Sie musste Michael finden, ihn warnen.
«Bleiben Sie, wo Sie sind!», rief einer der Soldaten auf Serbisch, dann auf Englisch: «Down!» Sie gehorchte nicht. Dass er auf eine Zivilistin und mögliche Touristin schießen würde, hielt sie für ausgeschlossen. Sie rappelte sich auf und ging weiter. Mit jedem Schritt fuhr ihr ein scharfer Schmerz durch die Schulter. Sie wollte laufen, konnte aber nur taumeln wie eine Betrunkene. Die Soldaten forderten sie erneut lauthals auf stehenzubleiben, ließen sie aber ziehen, weil sie den Eismann in Schach halten mussten.
In der Ferne heulten Sirenen auf. Abby hatte jetzt die Terrasse verlassen und schleppte sich auf der Suche nach Michael und Gruber zwischen hohen Bäumen über einen gepflasterten Weg. Die Schüsse hatten ein Chaos ausgelöst. Dutzende von Menschen rannten durch den Wald wie Bauern auf der Flucht vor einem heranrückenden Heer.
Sie war kaum hundert Meter vorangekommen, als hinter ihr abermals Rufe laut wurden. Zwei weitere Soldaten waren aufgetaucht. Suchten sie nach ihr? Womöglich hatten sie den Beutel geöffnet, das Geld gesehen und den Schluss gezogen, dass sie nicht bloß das Opfer eines Überfalls war. Schnell zog sie ihren Mantel aus und stopfte ihn in einen Abfalleimer, in der Hoffnung, auf den ersten Blick nicht wiedererkannt zu werden. Wo war Michael?
Die Rufe wechselten im Ton; sie ließen erkennen, dass gefunden worden war, wonach man gesucht hatte. Abby riskierte einen Blick zurück. Einer der Soldaten lehnte mit angelegtem Gewehr an einem Baum. Der andere kniete am Boden und plierte durch das Visier seiner Waffe. Wie in einem Kriegsfilm, dachte Abby.
Ihr Blick folgte der Schusslinie und sah in rund fünfzig Metern Entfernung eine dunkelhaarige junge Frau in einer roten Windjacke. Sie hatte die Hände in die Höhe gestreckt und starrte den Soldaten schreckensbleich entgegen.
Sie haben die Falsche.
Die Soldaten würden ihren Irrtum bald erkannt haben. Abby kehrte ihnen den Rücken zu, passierte das osmanische Tor und mischte sich unter das aufgebrachte Volk. Wenig später entdeckte sie in der Menge einen grünen Anorak und einen langen schwarzen Mantel. Sie legte einen Schritt zu und ignorierte den stechenden Schmerz in der Schulter.
«Michael!» , rief sie.
Michael und Gruber blieben stehen und drehten sich um. Michael nickte unauffällig. Gruber sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben.
Zehn Schritte von ihr entfernt blieb noch ein anderer Mann stehen. Er hatte eine Baseballkappe der New York Mats auf dem Kopf und hielt eine klobige Kamera in der Hand, mit der er gerade fotografiert zu haben schien.
Zu spät erkannte Abby, dass an seinem Ohr ein silbernes Bluetooth-Headset klemmte.
Der Mann zog eine kleine Pistole aus der Kameratasche. Er richtete sie auf Michael und drückte ab.
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Konstantinopel – Mai 337
Ich habe die Kirche des heiligen Friedens erreicht. Konstantins Worte, die er in Nicäa gesprochen hat, klingen mir noch in den Ohren.
Ich will Frieden schaffen. Stehe ich mit diesem Wunsch allein da?
Ja , denke ich. Die Welt will keinen Frieden. Letzte Woche
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