Die Geheimnisse der Toten
will noch etwas sagen, verhaspelt sich aber und muss neu anfangen.
«Hast du jemals geliebt?»
Mit einer solchen Frage habe ich am allerwenigsten gerechnet. Nein, er will mich nicht kränken. Ich sehe ihm an, dass er es ernst meint und an eine Schwachstelle zu rühren versucht, die wir beide miteinander gemein haben. In seinen jungen Jahren kann er sich nicht vorstellen, dass es möglich ist, ewig ohne Leidenschaft zu leben.
Wie antworte ich ihm? Soll ich von den Frauen erzählen, die ich hatte? Dass ich spät geheiratet habe, zu einem Zeitpunkt, da mir klar wurde, dass ich nie in die kaiserliche Familie einheiraten konnte? Dass ich mich aber nach kurzer, kummervoller Zeit wieder getrennt habe? Doch danach hat er nicht gefragt. Die Antwort lautet: Ja, ich habe geliebt. Und sieh, was es aus mir gemacht hat.
«Ich habe geliebt.»
Er nickt, zufrieden mit meiner Antwort. «Wenn du jemanden liebst, willst du alles über ihn wissen – jeden Gedanken, jede Empfindung –, denn je mehr du weißt, desto größer wird deine Liebe.»
Ich kann ihm nicht folgen. «Sprichst du von deinem Gott?»
«Wir streiten untereinander, weil wir ihn noch besser kennenlernen möchten. Weil wir ihn lieben.»
«Wie kann man einen Gott lieben?» Götter sind schrecklich und gefährlich, launisch wie Feuer. Konstantin erfreute sich häufiger als jeder andere Mensch ihrer Gunst, doch selbst er wurde die Angst nie los, von ihnen verstoßen zu werden.
Simeon beugt sich vor. «Du hast dein ganzes Leben in Dunkelheit verbracht, und im Dunkeln ist die Welt ein Ort voller Schrecken. Aber Christus kam, um Licht zu bringen. Er zerriss den Vorhang und ließ uns das Licht der Liebe Gottes erblicken. Kennst du die Worte des heiligen Johannes? ‹So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.› Deine Götter spielen mit den Menschen. Unser Gott aber opfert seinen eigenen Sohn aus Liebe zu seiner Schöpfung. Kannst du dir das vorstellen?»
Mir reicht es. Ich drehe mich um und gehe davon, so schnell ich kann.
«Ich werde für dich beten!», ruft er mir nach.
Ohne meinen Schritt zu verlangsamen, werfe ich einen Blick über die Schulter zurück. «Bete, dass ich Alexanders Mörder ausfindig mache.»
Ich brauche ein Bad. Ich bin seit dem Morgengrauen auf den Beinen und fühle mich schmutzig. Staub klebt in meinen Haaren, auf den Wangen, ja sogar auf meiner Zunge. Sooft ich meinen Unterarm betrachte, muss ich an Symmachus’ vergiftetes Wasserbecken denken und erschauere.
Es ist ein privates Badehaus, recht groß, aber ich bin hier gut bekannt. Die meisten Badegäste arbeiten für die Regierung. Im großen Innenhof boxen und ringen junge Männer unter den Augen ihrer Freunde. Im Schatten der Arkade bieten Händler Öle feil, Kämme und fremdartige Salben, die angeblich kräftigen und schöner machen.
Ich ziehe mich in der Umkleidekammer aus und gehe ins tepidarium . An manchen Tagen tut mir der Sprung in kaltes Wasser gut; heute brauche ich Wärme. Ich gebe dem Bademeister ein Trinkgeld, damit er mir die Hausierer und Masseure vom Hals hält, und gleite ins warme Wasser. Ich schließe die Augen.
Meine Gedanken treiben durch das Wasser. Ist Simeon schuldig? Hat er Alexander getötet oder Symmachus oder beide? Ich weiß nicht weiter. Simeon war so überzeugend, dass ich ihm fast glauben möchte.
Aber ich weiß auch, dass Mörder mit ihrem Verbrechen leben können, als hätte es nie stattgefunden.
Im Geiste sehe ich wieder den armen Symmachus tot am Beckenrand in seinem Garten. Vielleicht hat er sich tatsächlich das Leben genommen. Andere Stoiker sind diesen Weg gegangen. Cato zum Beispiel, dessen Marmorbüste jetzt in Symmachus’ Fischteich liegt; oder Seneca, der große Philosoph und Staatsmann, der einen Anschlag auf Nero plante. Er starb in einem Badehaus, nachdem er sich die Venen geöffnet hatte, damit die Hitze das Blut aus ihm herauszöge. Allerdings ist mir auch eine andere Version zu Ohren gekommen: dass er nicht an seinen Wunden starb, sondern im Dampf erstickte.
Ich glaube, ich werde das Dampfbad heute nicht aufsuchen. Seneca war nicht der Erste und nicht der Letzte, der in einem Dampfbad umkam.
Aurelius Symmachus war Stoiker. Äußerliche Dinge konnten seine Seele nicht berühren.
Was haben diese Stoiker an sich? Sie behaupten, das Leben meistern und überwinden zu können. Und dann töten sie sich am Ende doch. Liegt es an der
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