Die Geheimnisse der Toten
nicht laut aufschrie, war alles. Als sie zurückblickte, sah sie, wie zwei Polizisten den Schützen mit Maschinenpistolen in Schach hielten. Der Mann mit der Trainingsjacke redete auf sie ein, schaute sich um und gestikulierte wild mit den Armen.
«Wir müssen verschwinden», sagte Michael. «Wenn die Polizisten erst einmal Zeugen vernommen haben, werden sie sehr schnell auch mit uns sprechen wollen.»
«Was ist mit Gruber?»
Michael schüttelte den Kopf. «Da ist nichts mehr zu machen.» Er hob die Klarsichtfolie in die Höhe, die er dem Toten abgenommen hatte. Ein Loch von der Größe eines Fünf-Cent-Stücks klaffte darin.
Im Laufschritt verließen sie den Park und überquerten die Hauptstraße. Eine Straßenbahn rumpelte vorbei und bot ihnen für einen Moment Sichtschutz.
«Wohin?», fragte Abby.
«Kennen wir in Belgrad jemanden?»
Auf dem Studentsky Trg herrschte jetzt reger Betrieb. Zahllose Studenten standen in Gruppen auf dem Platz zusammen und fragten sich, was an der Zitadelle geschehen sein mochte. Sie hatten die Schüsse und Polizeisirenen gehört, aber zum Glück brachte niemand Michael und Abby mit dem Chaos in Verbindung.
Der Portier erkannte sie wieder und winkte sie durch. Sie kamen gerade noch zur rechten Zeit. Dr. Nikolić stand vor seinem Büro. Er hatte sich eine Lederjacke über den Pullunder geworfen und hielt ein Schlüsselbund in der Hand. Als er sie sah, lächelte er höflich.
«Haben Sie etwas vergessen?»
Michael reichte ihm die Plastikhülle. Abby wusste nicht, was sie enthielt. Ihr waren nur ein paar verschwommene Zeichen auf dunklem Grund aufgefallen, als sie kurz zuvor, versteckt in einem Hauseingang, Grubers Blut vom Deckel gewischt hatte.
Nikolić aber schien beim ersten Blick äußerst interessiert zu sein. Er nahm die erste Seite heraus und las aufmerksam. Das Loch kommentierte er nicht.
«Ist das die Mikro-CT einer alten Papyrusrolle?»
«Ja, des Originals, aus dem die Gedichtzeilen stammen, die wir Ihnen heute Morgen gezeigt haben», antwortete Abby. «Wenn mehr darüber herauszufinden ist, dann hier.»
Nikolić zeigte sich überrascht. «Sie haben sich selbst nicht vergewissert?»
«Dazu hatten wir noch keine Zeit», erklärte Michael.
«Außerdem können wir kein Latein», fügte er hinzu.
Nikolić legte das Blatt zurück in die Hülle. Erst jetzt sah Abby, dass noch ein Rest Blut darauf zurückgeblieben war. Draußen waren Polizeisirenen zu hören, vom Platz aus, wie es schien.
«Haben Sie ein Auto?», fragte Michael. «Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns aus Belgrad hinausbringen könnten.»
Nikolić starrte ihn an. Michael ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
«Was Sie hier sehen, ist die Kopie einer Schriftrolle, die einem der bedeutendsten Generäle Konstantins gehörte. Sie war lange verschollen, ist nie veröffentlicht worden und sucht jetzt einen neuen Besitzer.»
Abby wunderte sich, dass Nikolić sie nicht auslachte, des Hauses verwies oder den Sicherheitsdienst alarmierte. Aber er verzog keine Miene und ließ seinen Blick zwischen Michael, Abby und der Plastikhülle hin- und herwandern. Er wirkte weder schockiert noch beleidigt. Nur dass er verwirrt war, ließ er sich anmerken.
Schließlich zuckte er mit den Achseln und wedelte mit dem Schlüsselbund. Ein Glücksbringer in Form einer Hasenpfote hing daran.
«Mein Wagen steht gleich um die Ecke.»
Er führte sie durchs Treppenhaus nach unten.
«Ich kann kaum fassen, dass er uns tatsächlich hilft», murmelte Abby, an Michael gewandt. Nikolić, der ein paar Schritte vorausging, hatte sie dennoch gehört und drehte sich um.
«Wir sind hier in Serbien. Glauben Sie, ich hätte nicht schon verrücktere Geschichten erlebt?»
Nikolić fuhr einen kleinen, roten Fiat. Abby saß vorn. Sie hatte die Haare gelöst und versteckte ihr Gesicht dahinter. Michael kauerte auf der Rückbank, den Kopf ans Fenster gelehnt, und tat, als schliefe er. Der Verkehr kam nur schleppend voran. Die Polizei hatte mehrere Straßensperren errichtet, schien aber bei ihrer Fahndung wenig methodisch vorzugehen. Zwar rechnete Abby damit, jeden Augenblick angehalten zu werden und sich ausweisen zu müssen, doch dazu kam es nicht. Über Nebenstraßen fuhren sie im Zickzack durch die Altstadt, überquerten die Sava und beschleunigten auf der Autobahn, die geradewegs durch Novi Belgrad führte. Innerhalb weniger Minuten hatten sie die Stadt verlassen und ausgedehnte Weide- und Ackerflächen erreicht. Abby staunte, wie
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