Die Geheimnisse der Toten
Anstrengung, am Kraftakt des Willens, mit dem sie ihre Gefühle angesichts der Provokationen des Lebens zurückdrängen, dass sie am Ende völlig erschöpft sind?
Dem Zugriff der Welt kann sich eigentlich nur ein Gott entziehen. Die Stoiker glauben, es könne ihnen kraft ihres Intellekts und ihres Willens gelingen. Christen setzen dagegen auf ihren Glauben. Vielleicht haben beide mehr miteinander gemein als gedacht. Sie versuchen, der menschlichen Natur zu entfliehen.
Kein Wunder, dass so viele von ihnen Selbstmord begehen.
Die Richtung, in die meine Gedanken treiben, gefällt mir nicht. Ich öffne die Augen und gieße Wasser über meinen Rücken. «Es ist zu kalt!», beschwere ich mich beim Bademeister. «Leg Holz aufs Feuer.» Und plötzlich spricht jemand meinen Namen aus.
Ich werfe den Kopf in den Nacken und blicke auf. Es dauert eine Weile, ehe ich den Mann erkenne, der hinter mir steht. Er wird Bassus genannt und hat irgendein Amt im Palast. Vor Jahren, als ich Konsul war, diente er mir in meinem Stab. Jetzt ist er nackt und schwitzt aus allen Poren seiner falben Haut. Die Haare kleben ihm am Schädel. Er sieht schrecklich aus, aber ich begrüße ihn so herzlich, wie es mir gelingt. Er hockt sich neben mich.
«Hast du von Aurelius Symmachus gehört?»
Meine Verwunderung bleibt ihm verborgen. Dabei hätte ich damit rechnen können. Natürlich weiß er schon davon. Der Skandal macht die Runde und wird die Stadt so lange beschäftigen, bis ihn ein anderer ablöst.
«Ich habe gehört, dass er sich das Leben genommen hat», antworte ich.
«Mit Gift.» Er plantscht mit der Hand im Wasser. «Nur gut, dass er nicht hierhergekommen ist, in ein öffentliches Bad wie Seneca. Stell dir die Schweinerei vor.»
«Tja.»
Zurückgelehnt kratzt sich Bassus in der Achselhöhle. «Gestern Abend habe ich ihn noch gesehen. Er kam in den Palast.»
Einige der anderen Badegäste rücken näher. Ich mache meine Augen halb zu.
«Wollte er um Gnade ersuchen?», fragt jemand.
«Er war sehr aufgebracht und wollte den Präfekten sprechen.»
«Wahrscheinlich hat er gehört, wie die Griechen mit alten Männern umspringen», sagt ein untersetzter Hauptmann der Wachen. Gelächter, obszöne Gesten. Bassus wartet, bis es wieder ruhig geworden ist.
«Er sagte, er habe etwas über einen Christenbischof herausgefunden. Etwas Skandalöses.»
Hat der Bademeister meine Anweisungen nicht befolgt? Das Wasser ist so kalt, dass ich zu zittern anfange. Während plötzlich alle gleichzeitig reden, rücke ich näher an Bassus heran und flüstere ihm ins Ohr: «Hat er jemandem sein Geheimnis anvertraut?»
«Keiner wollte mit ihm reden. Er blieb ungefähr zwei Stunden und ging dann unverrichteter Dinge wieder.»
«Hat er gesagt, um welchen Bischof es geht?»
Bassus wendet sich mir zu und mustert mich von der Seite. Sein Blick fragt: Wie viel Dreck willst du eigentlich aufwühlen?
«Nein.» Und dann, weil er sich den Scherz offenbar nicht verkneifen kann: « So lebensmüde war er nun auch wieder nicht.»
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35
Belgrad, Serbien – Gegenwart
Der Mann mit der Baseballkappe feuerte zweimal.
In zehn Schritten Entfernung taumelte Gruber zurück, als wäre er gestolpert.
Die Waffe richtete sich auf Michael. Kreischend nahmen die Parkbesucher, die aus Neugier herbeiströmt waren, Reißaus. Es herrschte nackte Angst. Sie rannten auf den Parkausgang zu und versperrten den Streifenwagen den Weg. Schreie und Sirenengeheul stritten um die Wette.
Der Mann mit der Baseballkappe brüllte Michael etwas zu. Gruber lag vor seinen Füßen am Boden. Blut sickerte in den Kies. Der Finger des Killers krümmte sich um den Abzug.
Abby war zu weit entfernt. Sie wollte Michael zu Hilfe eilen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht.
Ein Mann in kurzer Hose und schwarzer Trainingsjacke löste sich aus der Menge und fiel über den Schützen her. Im Unterschied zu Abby machte er keinen Fehler. Er rammte dem Kerl die Schulter in die Seite, trat die Beine unter ihm fort und warf ihn zu Boden. Der Schütze wehrte sich, doch der Mann mit der Trainingsjacke hatte ihn fest im Griff. Er zwang ihm die Pistole aus der Hand und warf sie ins Gebüsch.
Michael kniete neben Gruber und zog etwas aus seiner Tasche. Blut verschmierte seine Hände.
«Komm her!» , rief er.
Abby konnte sich immer noch nicht rühren. Michael eilte zu ihr, ergriff ihre Hand und zog sie hinter sich her. Ihr war, als platzte die Schusswunde an der Schulter wieder auf. Dass sie
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