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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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mich vorzustellen versuchten.
    Mir schwebt ein Bild vor Augen: das Imperium als ummauerte Stadt auf dem Rücken eines gefräßigen Drachen. Konstantin hat ihm alle Köpfe abgeschlagen, ihn gezähmt und auf einer Weide angekettet, wo er gezwungen ist, Gras zu fressen. Doch jetzt, da er tot ist, wachsen dem Untier neue Köpfe. Es wetzt seine Zähne und Krallen und entdeckt aufs Neue, welche Kraft in ihm steckt. Mord und Totschlag feiern Urstände, und bald wird wieder Krieg herrschen.
    Hohe Wolken ziehen auf. Die Sonne scheint sich hinter einem Trauerschleier zu verbergen. Für meinen Gemütszustand finde ich keine Worte. Ich bin weder verzweifelt noch wütend. Ich fühle mich einfach nur leer.
    Meine Gedanken kehren an einen anderen Hof zurück, in die Zeit nach einem anderen Tod.

Mailand – Juli 326, elf Jahre zuvor
    Als ich Pula verlasse, hat sich der Hofstaat von Aquileia nach Mailand auf den Weg gemacht. Wir treffen dort zusammen. Ich wäre lieber an jedem anderen Ort, muss aber meinen Bericht vorlegen. Meine Schuld lastet auf mir wie ein Mühlstein. Mir ist jeglicher Appetit verloren gegangen, ich kann kaum sprechen. Nachts dauert es Stunden, bis ich endlich einschlafe, um schließlich aus blutigen Albträumen schreiend zu erwachen. Und es wird alles noch schlimmer.
    Zum ersten Mal in meinem Leben lässt mich Konstantin warten. Ich gehe in meiner kläglichen Kammer hoch über dem Haupthof ungeduldig auf und ab. Von der Decke löst sich ein wenig Putz und fällt mir auf den Kopf. Der halbe Palast ist unbewohnbar, die andere Hälfte zum Großteil mit Tüchern verhängt, die Schäden verbergen oder solche Bilder, die das kaiserliche Auge beleidigen könnten. Der ganze Komplex verrottet in seiner Geschichte. Der alte Maximian ließ ihn errichten, oder anders ausgedrückt: Er entstand als Auswucherung seines kranken Geistes. Hier begegneten sich Konstantin und Licinius – Als ich, Konstantin Augustus, und ich, Licinius Augustus, glücklich in Mailand zusammentrafen und alles in Betracht zogen, was das allgemeine Wohl betrifft –, hier hielt Konstantin seine berühmte Rede, mit der er den Christen Unterstützung versprach, und hier vermählte er seine Schwester Constantiana mit dem Mann, den er später hinrichten ließ.
    So viele in Erinnerung gebliebene Schicksale, und es gibt keines, das nicht im Blut geendet wäre.
    «Die Augusta wünscht dich zu sprechen.» Ich zucke vor Schreck zusammen. Der Diener scheint sich aus dem Staub in der Luft materialisiert zu haben. Er hält seinen Blick gesenkt. Weiß er, was ich getan habe? Hat er davon gehört? Er führt mich durch endlose Gänge und mehrere Räume ein weites, fensterloses Treppenhaus hinab und in einen anderen Flügel des Palastes. Feuchtigkeit hängt in der Luft. Wir scheinen uns dem Bad zu nähern.
    In einem quadratisch geschnittenen Raum mit blutroten Wänden warten alle auf mich: Konstantin, ein Gespenst seiner selbst; Fausta mit stolzer, wütender Miene; Konstantins Mutter, die Kaiserwitwe Helena, mit verhangenen Augen und fest zusammengepressten Lippen. Im Hintergrund hampeln Faustas drei Söhne herum.
    Niemand fragt, was ich getan habe. Niemand dankt mir, niemand bemitleidet mich oder klagt mich an. Helena reicht mir eine Schriftrolle.
    «Lies!»
    «‹Große Göttin Nemesis, ich verfluche meinen Feind und überantworte ihn Deiner Gewalt. Treibe ihn in den Tod …›»
    Ich muss nicht weiterlesen. «Das ist die Verwünschungsformel, die ich unter Crispus’ Bett in Aquileia gefunden habe.»
    Helena heftet ihren gnadenlosen Blick auf mich. «Aber?»
    «Ohne Namen.»
    «Weißt du …» Sie redet mit mir, aber ich bin nur ihr Resonanzboden. Die Worte sind an jemand anderen gerichtet. «Weißt du, wo ich diese Version gefunden habe?»
    Niemand wagt zu antworten.
    «In Faustas Schlafgemach.»
    Ich gerate ins Zittern und fürchte, die Besinnung zu verlieren. Es scheint keinem aufzufallen – oder vielleicht ist es den anderen auch gleichgültig. Mein Mund ist trocken, mein Kopf schmerzt. Ich sehne mich nach einem Schluck Wasser.
    Fausta gibt sich unbeeindruckt. «Ich habe den Text von der Tafel kopiert, um Crispus’ Verrat zu dokumentieren.»
    «Ich bin mit diesem Papier in den Tempel der Nemesis in Aquileia gegangen», fährt Helena fort, als hätte Fausta nichts gesagt. «Ich habe es der Priesterin gezeigt. Sie erklärte, die Formel für eine Frau niedergeschrieben zu haben, die den genauen Wortlaut des Fluchs kennenlernen wollte. Eine Frau von Adel, zu

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