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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Fotos gemacht? Wirf mir die Karte runter.»
    Abby holte tief Luft. Jetzt musst du dich entscheiden. Sie hatte in ihrem alten Job schon häufiger in der Klemme gesteckt, an einigen der schönsten Orte der Welt. Sie kannte die Versuchung, noch eine Weile abzuwarten, und sei es nur ein paar Sekunden, in der Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Und sie wusste, wie schnell man aus Sekunden Minuten machen konnte, ja sogar Stunden, wenn es die Umstände zuließen. Hoffnung rechtfertigte immer Unentschlossenheit – bis zu dem Moment, da man bitter dafür bezahlte.
    Sie nahm den Stuhl bei den Beinen und schleuderte ihn gegen das Fenster. Sofort schrillte Alarm. Daran hatte sie nicht gedacht. Jemand rüttelte an der Tür, pochte mit den Fäusten dagegen.
    Die Glasscheibe war intakt geblieben. Abbys Schulter schmerzte wieder wie wild.
    Ohnmächtig starrte sie auf den Stuhl. Er fühlte sich in ihrer Hand an wie ein Zahnstocher. Die Attacken auf die Tür wurden heftiger. Es war nicht nur eine Person, die sie aufzubrechen versuchte. Der Riegel würde nicht lange halten.
    Selbst Michael schien den Lärm zu hören. «Wirf mir die Karte runter!», drängte er.
    Sie fischte den Speicherchip aus ihrem BH, schob die Hand durch den Fensterspalt und warf. Michael fing den Chip mit einer Hand auf und hob sie zum Gruß. Vielleicht auch zum Abschied.
    Der Riegel gab nach, die Tür flog auf. Der Mann im schwarzen Vlies stürmte herein und packte sie beim Arm. Mark stand draußen im Korridor. Die Verkäuferin schrie durchs Treppenhaus.
    Abby warf einen letzten Blick durchs Fenster. Der Hof war leer.

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    40
    Nikomedia – 22. Mai 337
    Innerhalb von zwei Stunden hat sich das Gesicht der Welt verändert. Flavius Ursus, Flavius der Bär, Flavius Der-Sohn-eines-Barbaren, der jetzt der Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, kam aus Konstantins Gemächern und bestätigte, was jeder erwartet hatte. Der Augustus ist tot. Sein Leichnam wurde in den Keller gebracht, an den kältesten Ort. Die Bestatter kümmern sich um alles Weitere. Unter den Lebenden gibt es nur wenige, die sich an einen Augustus erinnern, der eines natürlichen Todes gestorben ist. Aber ob auf natürlichem Weg oder gewaltsam – wenn ein Augustus stirbt, ist es, als wache man am Morgen auf und stelle fest, dass die Sonne nicht aufgegangen ist. Was soll man dann tun?
    Ich weiß es: in den Stall laufen, das schnellste Pferd satteln und im gestreckten Galopp reiten, bis ich meine Villa auf dem Balkan erreiche. Aber das lässt sich wohl nicht machen. Das Anwesen wird inzwischen abgeriegelt sein. Gardisten bewachen jede Tür und jedes Fenster. Jeder, der sich zu schnell bewegt, der entweder zu froh oder allzu traurig scheint, jeder, der das Weite sucht, macht sich verdächtig.
    In der fiebrigen Hitze der Villa schwirren die Gerüchte wie Fliegen. Konstantin ist fünfundsechzig Jahre alt geworden; noch vor zehn Tagen wirkte er kerngesund. Vielleicht ist er doch nicht eines natürlichen Todes gestorben.
    Eine Tür fliegt auf. Flavius Ursus tritt ein. Er hat heute viel zu tun.
    «Dachte ich’s mir doch, dass ich dich hier antreffe», sagt er.
    «Wenn ich irgendwie helfen kann …»
    «Halte dich bereit. Vielleicht brauchen wir dich, um ein paar Dinge mit der alten Garde zu klären.»
    Er verlässt mich wieder und geht in die große Halle, wo sich der Heeresstab versammelt hat. Diese Männer werden über die Nachfolge entscheiden, ungeachtet dessen, was Konstantin als seinen letzten Willen niedergeschrieben hat. Seit Generationen herrscht bei uns eine barbarische Form von Meritokratie: Jeder, der dreist und rücksichtslos genug ist, kann an die Spitze der Streitkräfte gelangen, und von dort ist es nicht mehr weit bis zum Thron. Diokletian kommandierte die kaiserliche Leibgarde, bis derjenige, den er beschützen sollte, von hinten niedergestochen wurde. Doch das schadete der Karriere des Kommandanten nicht, im Gegenteil, er bestieg den Thron. Konstantins Vater, ein einfacher Legionär, stieg in den Generalstab auf und wurde von Diokletian zu dessen Nachfolger bestimmt.
    Ich erinnere mich an das, was Constantiana in jener Nacht im Palast gesagt hat: Manche behaupten, er hätte dich zum Kaiser küren wollen, bevor Fausta wie eine Zuchtsau einen Sohn nach dem anderen warf. Hätte er das? In dem Fall läge wohl ich im Keller unter den Händen der Bestatter, die mir die Gedärme aus dem Leib zögen, während sich meine Generäle und Höflinge eine Welt ohne

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