Die Geheimnisse der Toten
sich sparen. Hier steht übersetzt: ‹Konstantin, der unbesiegte Kaiser Augustus, einundzwanzig.›»
«Ist das alles?»
«Ja.»
«Aber das ist doch nur ein Name.» Er schob eine Locke zurück, die ihm in die Stirn gefallen war. «Und was hat die Einundzwanzig zu besagen?»
Abby ließ sich aufs Bett fallen. «Fragen Sie Ihren Experten.»
Mark verzog sich ins Badezimmer. Das Geräusch des Ventilators übertönte, was er am Telefon sagte. Als er ins Zimmer zurückkehrte, machte er einen verblüfften und ärgerlichen Eindruck.
«Mit der Zahl ist anscheinend das Jahr der Herrschaft Konstantins gemeint. Das Gedicht müsste demnach 326 oder 327 entstanden sein. Was auch immer uns das hilft.»
Spontan erinnerte sich Abby an etwas, das Nikolić gesagt hatte.
«Das labarum scheint sich mindestens bis ins neunte Jahrhundert erhalten zu haben. Ein byzantinischer Historiker erwähnte es.»
«Wollen Sie uns Geschichtsunterricht erteilen?»
«Das Gedicht wird uns nicht verraten, wo, wenn überhaupt, das labarum heute zu finden ist. Es wurde von den byzantinischen Herrschern fünfhundert Jahre lang offen ausgestellt.»
Mark starrte sie an. «Das Gedicht sagt uns gar nichts. Das ist es ja.» Er trat vor ein Bein des Bettes. «Alles nur dummes Zeug.»
Connie blickte von ihrem BlackBerry auf. «Egal. Hauptsache, Dragović springt darauf an. Wir könnten ein bisschen nachhelfen.»
Mark schüttelte den Kopf. «Er wird nur dann aus der Deckung herauskommen, wenn er absolut überzeugt davon ist, dass es sich lohnt.»
Er ging ins Badezimmer zurück. Abby beugte sich wieder über das Gedicht. Rätsel hatten sie schon als Kind fasziniert – eine Neigung, die ihr auch als UN-Ermittlerin zugutegekommen war, wenn sie im Schein einer Notleuchte Zeugenaussagen hatte studieren müssen.
Sie versuchte zu vergessen, was in den vergangenen zwei Tagen passiert war, um sich voll konzentrieren zu können.
Alle Gedichte, die uns erhalten geblieben sind, enthalten geheime Botschaften.
Okay. Das Monogramm, über die Schriftzeichen gelegt, verriet Name und Titel Konstantins. Schlau gemacht. Die Worte entsprechend zu setzen musste viel Geduld erfordert haben.
Aber warum hätte ein Mann, der an solchen Spielen offenbar Vergnügen fand, an dieser Stelle haltmachen sollen? Wozu die ganze Mühe, bloß, um einen Namen zu buchstabieren?
Porfyrius wurde 326 begnadigt und kehrte zurück.
Vielleicht hatte er sich dankbar erwiesen. Wie auch immer, die Frage nach dem Sinn des Gedichts blieb offen. Gab der Vater trauernd seinen Sohn. Wenn Konstantin seinen Sohn Crispus tatsächlich hatte töten lassen, wäre Porfyrius doch bestimmt nicht so töricht gewesen, diese Tat zu dokumentieren, egal, wie clever verschlüsselt – zumal er gerade aus dem Exil gekommen war und gewiss nicht wieder dahin zurückkehren wollte.
Es musste um etwas anderes gehen.
Abby hob die Kette vom Bett und musterte sie. Connie beobachtete sie, sagte aber nichts. Barry hatte seine Augen wieder hinter der Sonnenbrille versteckt. Mark war immer noch im Bad.
Ein Christusmonogramm ist es streng genommen nicht. Es wird Staurogramm genannt, abgeleitet vom griechischen stavros in der Bedeutung Pfahl oder auch Kreuz.
Natürlich! In Erinnerung dieser Worte sah sie es jetzt ganz deutlich. Ein einfaches Kreuz mit Halbkreis, der die obere Spitze mit dem rechten Seitenarm verband. Und an allen vier Enden des Kreuzes sowie in seiner Mitte vergrößerte eine rote Glasperle den darunterliegenden Buchstaben.
Manche Experten behaupten, die Gedichte seien dem Kaiser auf Goldtafeln präsentiert worden, auf denen Edelsteine die Schlüsselbuchstaben hervorgehoben haben.
Fünf Perlen, fünf Buchstaben. Sie hatte sie in der Toilette des Cafés auf einem Zettel notiert, in der Eile aber nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt legte sie das Amulett wieder auf das Gedicht und lugte durch das trübe rote Glas.
S S S S S.
Unter jeder Perle derselbe Buchstabe.
Das konnte kein Zufall sein – aber was hatte es zu bedeuten?
Abby nahm die Kette vom Blatt und untersuchte die Position der Buchstaben im Gedicht. Dass sie genau wie die Kette ein Kreuz bildeten, konnte nicht überraschen.
Auf denen Edelsteine die Schlüsselbuchstaben hervorgehoben haben. Aber es war doch nur ein und derselbe Buchstabe! Abby runzelte die Stirn. Sie spürte, dass sich die Kopfschmerzen zurückmeldeten.
Und plötzlich kam ihr ein Gedanke. Vielleicht sind es nicht die Buchstaben, sondern die Wörter, die den Schlüssel
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