Die Geheimnisse der Toten
liefern. Sie schrieb die fünf Wörter auf, die das S enthielten, schwang sich vom Bett und klopfte an die Badezimmertür. Barry ließ sie nicht aus den Augen. Seine Hand näherte sich der Jackentasche.
Mark schloss die Tür auf und öffnete sie, das Handy am Ohr. Er kniff die Brauen zusammen, als er sie sah.
«Haben Sie Ihren Professor aus Oxford noch in der Leitung?»
«Warum?»
«Fragen Sie ihn, was dieser Satz hier bedeutet.» Sie reichte ihm das Blatt mit den fünf notierten Wörtern. SIGNUM INVICTUS SEPELIVIT SUB SEPULCHTO.
Mark sperrte die Augen auf. «Ich melde mich wieder», wimmelte er seinen Gesprächspartner ab, wählte eine neue Nummer und hielt das Handy ans Ohr. Abby hörte zu, als er den Satz vorlas und dann Wort für Wort buchstabierte. Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, presste er den Zettel auf die Badezimmerwand und schrieb mit, was er zur Antwort bekam.
«Danke.» Er beendete das Gespräch und starrte für eine Weile in den Spiegel. Völlige Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, wie Abby bemerkte.
«Wörtlich lautet die Übersetzung: ‹Der Unbesiegte vergrub das Zeichen unter dem Grab.› Nigel, unser Experte, meint, es könne übertragen bedeuten: ‹Der Unbesiegte – also Kaiser Konstantin – vergrub die Standarte – also das labarum – unter seiner Grabstätte.›»
«Wissen wir, wo er begraben liegt?» Es war Connie, die fragte. Sie war hinter Abby aufgetaucht und starrte an ihr vorbei auf Mark.
Abby kannte die Antwort. Sie erinnerte sich an Nikolićs Auskunft.
Als die Türken Konstantinopel einnahmen, haben sie seine Grabkirche, die von ihm gebaute Apostelkirche, zerstört und auf den Trümmern ihre eigene Moschee errichtet.
«In Konstantinopel.»
«Istanbul», korrigierte Connie. «Konstantinopel war einmal.»
«Unter einer Moschee.»
«Einer Moschee?» Mark zeigte sich irritiert. Connie tippte etwas in ihren BlackBerry und wusste in weniger als dreißig Sekunden Bescheid.
«Die Fatih-Moschee.»
Mark war schon auf dem halben Weg zur Tür. «Gehen wir.»
«Und Michael?», fragte Abby. Sie erinnerte sich an seine besorgte Miene, als er sich im Hof umgedreht hatte und davongeeilt war. Ihn schon wieder zu verlieren schmerzte sie mehr als die Schusswunde.
Mark war nicht interessiert. «Unser Mann ist Dragović. Um Ihren Freund kümmern wir uns bei Gelegenheit.»
«Und was ist mit mir?» Sie erinnerte sich an Marks Versprechen im Café, dass sie in drei Stunden wieder zu Hause und in Sicherheit sein könnte. Sie wollte nur eins: schlafen.
«Sie kommen mit uns.» Er sah ihre Gesichtszüge entgleiten und grinste hämisch. «Wir brauchen Sie. Als Köder.»
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Konstantinopel – Juni 337
Nichts verlangsamt einen Mann so sehr wie Todesangst. Der vergangene Monat war der längste meines Lebens. Seit meiner Rückkehr aus Nikomedia ist jeder Tag für mich gleich. Ich stehe spät auf und gehe früh zu Bett. Ich arbeite Ursus’ Liste ab und wiederhole ständig die Lüge, dass Konstantin mich gebeten hat, um Unterstützung für seine Söhne zu werben. Ich besuche die öffentlichen Badehäuser, vermeide aber jedes Gespräch. Zum Forum gehe ich überhaupt nicht mehr. Bis auf meinen Leibdiener habe ich alle Sklaven entlassen, und selbst ihn bemühe ich kaum.
Manchmal frage ich mich, ob so auch Crispus seine letzte Woche im Exil in Pula verbracht hat. Und ich frage mich, wer wohl auf mich angesetzt wird.
Der letzte Name auf meiner Liste ist Porfyrius. Ich habe ihn bis zum Schluss aufgespart – er steht für Dinge, an die ich nicht denken möchte. Wer mit einem aufgeschobenen Todesurteil lebt, muss seine Phantasie im Zaum halten.
Der Tag, an dem ich zu ihm gehe, ist heiß und stickig. Die Stadt glüht unter der nackten Sonne, die den Verlust ihres Lieblingssohnes voller Wut beklagt. Ich muss lange vor der Tür warten. Fast wäre ich umgekehrt, doch schließlich wird mir geöffnet.
«Ich empfange dieser Tage nur wenige Besucher», entschuldigt sich Porfyrius.
Durch die offene Tür sehe ich einen Tisch im Atrium stehen, gedeckt mit Bechern und Tellern. Einen Kommentar erspare ich mir.
«Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn wir uns in meiner Schreibstube unterhalten. Das Atrium wird gerade renoviert.»
Ich werfe noch einen Blick hinein. Handwerker sind mir nicht aufgefallen, aber nun sehe ich die Tür lautlos zugehen.
Er führt mich in seine Schreibstube. Das Pult ist voller Papiere, Pläne und Zeichnungen – für einen Tempel,
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