Die Geheimnisse der Toten
zwei Tagen habe ich mich eingeschlossen und warte darauf, dass sich die Menge zerstreut. Am dritten Tag hält es mich nicht länger im Haus. Ich lege meine Toga an, bürste mir die Haare und mische mich unter die Trauernden. Der Weg über das Augusteum, wo die Standbilder vergötterter Herrscher auf ihren neuen Gefährten warten, dauert Stunden. Noch ehe ich den Platz erreiche, tun mir die Beine weh, und mein Rücken fühlt sich an, als trüge er heiße Kohlen. Ich bin schweißgebadet. Es drängt mich zurück nach Hause. Endlich vor dem Palasttor angekommen, muss ich zwei weitere Stunden warten.
Dann aber werde ich schließlich eingelassen. Es müssen wohl an die zweitausend Menschen sein, die sich in der Halle drängen, aber es ist kaum ein Laut zu hören. Auf leisen Sohlen rücken sie in einer langen Schleife vor. Vor der Seitenwand legen sie ihre Geschenke ab: Amulette und Schmuckstücke, Münzen und Medaillen, bemalte Fliesen oder Steinplatten mit eingeritzten Gebeten. Auf vielen ist das X-P-Zeichen zu sehen. Sind es Grabbeigaben – oder Opfergaben für einen Gott?
Die letzten Schritte sind die langsamsten überhaupt. Die von all den Leibern ausströmende Hitze macht mich benommen. Ich muss mich zwingen, auf den Beinen zu bleiben. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehen werde. Ich will diesen Moment festhalten.
Und dann ist es so weit. Er liegt vor mir auf einer goldenen Bahre, die auf einem dreistufigen Podest thront. Ringsum sind Zypressenzweige drapiert. Von Kohlenbecken steigt duftender Rauch auf. Kerzen flackern. Statt des weißen Taufgewands, in dem ich ihn zuletzt sah, trägt er kaiserliches Ornat: die purpurne, mit Gold und Juwelen geschmückte Robe, über die er im Feld seine scheppernde Rüstung legte; das goldene, perlenbesetzte Diadem; die roten Stiefel mit den von untertänigsten Küssen glattpolierten Lederspitzen. Auf dem Leichentuch unter ihm prangt sein Monogramm; ringsum erzählen gestickte Bilder von seinen Heldentaten. Und über allem schwebt auf der Lanze das goldene labarum , die alles bezwingende Standarte.
Ich starre in sein graues Gesicht, das nach der Einbalsamierung kaum mehr Ähnlichkeit mit dem Mann hat, den ich bis zur Selbstaufgabe geliebt habe und dessen letzten Wunsch ich nicht erfüllen konnte.
Eine Fliege schwirrt herbei und landet auf seiner Nase. Ein Sklave, der auf einem Stuhl neben der Bahre sitzt, verscheucht sie mit einer Straußenfeder. Die Bewegung holt mich in die Wirklichkeit zurück, und ich sehe, was tatsächlich vor mir aufgebahrt liegt.
Eine Wachspuppe.
Meine Tränen versiegen. Ich komme mir vor wie ein Narr. Natürlich wird hier nicht der echte Leichnam ausgestellt. Konstantin starb vor fast einem Monat. Nicht einmal die besten Bestatter hätten ihn so frischhalten können. Schon gar nicht in dieser Hitze. Dass ich mich habe täuschen lassen, ist mir selbst peinlich. Die Sonne hat die linke Wange schrumpfen lassen. Die Perücke, die man ihm aufgesetzt hat, ist ein wenig verrutscht.
Konstantin ist nun das, was uns gezeigt wird. Der Mann, der lebte und atmete – der Mann, den ich kannte –, ist verschwunden. Alle Trauergäste werden ihn als Statue in Erinnerung behalten.
Die Menge hinter mir drängt mich weiter. Ich flüstere ein Gebet für Konstantin – für meinen Freund und nicht für diese blutleere Attrappe – und will dann unbedingt hier fort. Ich eile zur Tür hinaus und durch den langen Säulengang, der in die Stadt führt. Es wimmelt von niedergeschlagenen Menschen, die miteinander tuscheln. Palastdiener verteilen Speisen an die Wartenden.
Vielleicht ist es Intuition, die mich aufmerken lässt, das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schaue mich um und sehe durch das dichte Gedränge einen Blick auf mich gerichtet.
Unsere Augen begegnen sich. Der Mann wendet sich ab und tut unbedarft. Aber ich werde ihn nicht entkommen lassen und schiebe mich durch den Menschenpulk, der in Richtung Tor immer dichter wird. Fast hätte ich ihn aus den Augen verloren, doch dann teilt sich die Menge, und ich sehe ihn vor mir: eine vornübergebeugte Gestalt in blauem Umhang, die trotz der Hitze eine Kapuze über den Kopf gezogen hat. Sie hinkt und kommt nur langsam voran. In weniger als zwanzig Schritten habe ich zu ihr aufgeschlossen.
Die Kapuze gleitet vom Kopf. Es ist Asterius der Sophist.
«Was willst du hier?»
«Dem Augustus meinen Respekt bezeugen.»
Es wird langsam dunkel. Die Falten in seinem Gesicht sind schwarz von Tinte und zeichnen seine
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