Die Geheimnisse der Toten
Polizisten patrouillierten mit automatischen Waffen und schwatzten miteinander. Abby fragte sich, ob das hier normal war.
Mark hatte ihr einen Reiseführer gegeben, damit man sie für eine Touristin hielt. Auf Anhieb schlug sie die Seite auf, auf der die Fatih-Moschee beschrieben stand. Fatih , so erfuhr sie, bedeutete Eroberer. Nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 hatte der osmanische Sultan Mehmed, auch der Eroberer genannt, die alte Kirche der Zwölf Apostel schleifen und auf ihrem Fundament sein Mausoleum errichten lassen. Dreihundert Jahre später fiel es einem Erdbeben zum Opfer. An seine Stelle baute man eine Moschee im osmanischen Barockstil, wie es im Reiseführer hieß.
Abby passierte das Tor und betrat einen großen Park mit quadratischen Rasenflächen und laublosen Bäumen. In seiner Mitte erhob sich die Moschee, umringt von meterhohen Bauzäunen. Ein Großteil der Außenmauern war eingerüstet. Abby suchte nach Überresten des römischen Gebäudes, das hier einmal gestanden hatte, fand aber keine. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie ein so wertvoller Schatz wie das labarum all die Jahrhunderte reger Bautätigkeiten hindurch hatte unentdeckt bleiben können. Es musste doch irgendwann irgendjemandem aufgefallen sein! Oder lag es tatsächlich noch unter dem Schutt von tausend Jahren begraben?
Mark hatte ihr eine Kamera gegeben. Sie schoss ein paar Fotos, die meisten aus der üblichen Touristenperspektive, aber auch solche von Details wie Türen, Kanaldeckeln und Regentraufen. Tun Sie so, als sondierten Sie die Lage , hatte Mark gesagt. Tun Sie heimlich und verstohlen. Das fiel ihr nicht schwer.
Sie ging um die Moschee herum und erreichte einen Friedhof mit flachen Gräbern und von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben. Von den Säulen, die einst Dächer trugen, waren nur bröckelnde Stümpfe übrig geblieben. Dahinter erhob sich ein achteckiges Mausoleum mit Kuppel, das zwar sehr viel größer war als die Ruinen, aber von der Moschee noch weit überragt wurde.
Abbys Herz schlug schneller. Die Achteckform entsprach der des Diokletian-Mausoleums in Split. Mochte in diesem hier Konstantin beigesetzt worden sein? Sie blätterte wieder im Reiseführer.
«Ein wenig abseits der Moschee befindet sich der Türbe , die Grabstätte von Mehmed dem Eroberer. Sie wurde nach dem Erdbeben im Barockstil rekonstruiert …»
Sie hätte es wissen sollen. Die Parallele lag auf der Hand. Mehmed der Eroberer und Konstantin der Unbesiegte. Zwei Männer unterschiedlicher Glaubenszugehörigkeit und Herkunft, die beide im Abstand von tausend Jahren der Welt bekunden wollten, dass sie geherrscht hatten. Zwei Männer, die trotz aller Verschiedenheit ein und denselben Ort als Beisetzungsstätte für sich ausgewählt hatten. Wollte Mehmed, indem er sich über Konstantins Grab legte, wie die Moschee, die die Kirche unter sich begrub, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen? Wohl eher nicht, dachte Abby. Es war vermutlich weniger Rivalität als Affinität, die ihn an diesen Ort geführt hatte. Er hatte Gesellschaft gesucht.
Gruber: Es gibt Orte, an denen die Macht gewissermaßen zu Hause ist. Dazu gehörte auch dieser Ort – das konnte Abby deutlich spüren. Sie dachte an den Toten im Kosovo, an Gaius Valerius Maximus, und fragte sich, ob auch er über diesen Hof gegangen war, den sein Dienstherr, der Kaiser, hatte anlegen lassen.
Sie machte noch ein paar Aufnahmen, beendete ihren Rundgang um die Moschee und kehrte auf die Straße zurück. Ein Taxi mit der ihr bekannten Nummer näherte sich. Sie tat, als winkte sie es herbei, und stieg ein.
«Und?», fragte Mark.
Abby legte den Sicherheitsgurt an, als sich der Wagen in Bewegung setzte. «Wenn Sie erwartet haben, dass mir Dragović begegnet, muss ich Sie enttäuschen. An der Moschee wird fleißig gebaut. Sieht aus, als würden die Fundamente freigelegt. Könnte sein, dass er dort einen Einstieg findet.»
«Wir fahren jetzt zum Kultusministerium. Vielleicht lassen sich ein paar unserer Leute in der Baukolonne unterbringen.»
Sein Telefon summte. Er tippte auf das Display, las eine Nachricht und schnaufte.
«Dragović hat sich anscheinend noch nicht gerührt. Wir beobachten die Flughäfen sämtlicher Orte, von denen wir wissen, dass er sich dort aufhalten kann. Auch unser Netzwerk ist eingeschaltet. Bislang ohne Ergebnis.» Abby erinnerte sich an den Mann in dem abgedunkelten Raum in Rom, an seine silberne Waffe, die er ihr an den Kopf gedrückt hatte.
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