Die Geheimnisse der Toten
aber, dass es am Mangel an Alternativen liegt.
Wie dem auch sei, heute werde ich dem Sarg folgen wie ein gefangener Barbar. Und wenn Ursus sein Versprechen hält, werde ich morgen Vormittag heimwärts nach Moesia reisen.
Das Ende meiner Schriftrolle, an der ich vor zwei Monaten in der Bibliothek zu arbeiten angefangen habe, ist fast erreicht. Ich lese die Namen, die ich mir damals notiert habe: Eusebius von Nikomedia, Aurelius Symmachus, Asterius der Sophist, Porfyrius. Jeder von ihnen hätte Alexander töten oder den Befehl dazu erteilen können. Es wäre für sie alle nur ein Frevel unter vielen, der kaum zu Buche schlägt.
In dieser Stadt ist nicht jeder Mord ein Verbrechen. Und nicht alle Verbrecher sind schuldig.
Auf den unteren Rand des Pergaments schreibe ich noch das Gedicht, das ich im Archiv gefunden habe. Mit dem Tod Alexanders hat es wahrscheinlich nichts zu tun, aber seine Rätselhaftigkeit fasziniert mich.
Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert …
Ich habe während der vergangenen zehn Jahre tatsächlich die Toten navigiert und dabei die Augen niedergeschlagen, um die Gespenster nicht zu sehen, die mich umgeben. Die Lebenden aber habe ich nicht erreicht.
Während ich das Gedicht kopiere, fällt mir etwas Neues auf. Die Abstände zwischen den einzelnen Schriftzeichen und zwischen den acht Zeilen sind so gewählt, dass ein quadratischer Textkörper entsteht.
Mich wundert, dass mir das nicht sofort ins Auge gesprungen ist. Es muss etwas zu bedeuten haben, denn der Verfasser hat sich große Mühe gegeben, um dieses Format zu erzielen. Ohne enormen kreativen Aufwand wäre das nicht möglich gewesen.
Ich starre auf die Zeilen. Und plötzlich, wie von einem Gott angezündet, geht mir ein Licht auf. Ich laufe zur Kommode und hole die Kette hervor, die man neben Alexanders Leichnam in der Bibliothek gefunden hat. Der goldene Anhänger hat die Umrisse eines Quadrats und eine Kreuzform in der Mitte, die Konstantins Monogramm ähnlich sieht.
Ich lege das Quadrat auf das Original des Textes, das ich im Scrinium Memoriae gefunden habe. Es passt perfekt: Goldanhänger und Textkörper sind deckungsgleich.
Porfyrius war ein Dichter. Als ich ihn fragte, was der Grund dafür gewesen sei, dass er ins Exil musste, antwortete er: «Ein Gedicht und ein Fehler.»
Porfyrius hatte für sein Grabmal das gleiche ungewöhnliche Monogramm entworfen.
Porfyrius war an jenem Tag in der Bibliothek.
Die Toga ist ein herrschaftliches Gewand, nicht gemacht, um darin zu rennen. Ich laufe ständig Gefahr, über den Saum zu stolpern, und sie droht mir von den Schultern zu rutschen. Die Menge, die sich zur Beisetzung eingefunden hat, hält mich auf. Sie erwartet das größte Theaterstück, das die Stadt in ihrer kurzen Geschichte bisher gesehen hat. Es sind nur wenige hundert Schritte zur Villa des Porfyrius, doch ich brauche dafür über eine halbe Stunde.
Porfyrius ist ausgeflogen und hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Riegel vorzulegen. Vielleicht rechnet er nicht mehr damit, jemals zurückzukehren. Es ist unheimlich still im Haus. Kein einziger Sklave rührt sich, obwohl nichts gepackt oder weggeräumt ist. Der lange Tisch im Atrium ist noch genauso gedeckt wie bei meinem Besuch vor wenigen Tagen.
Ich gehe in die Schreibstube und suche in den Regalen nach den Plänen für sein Mausoleum. Es wäre schade, müsstest du deine Grabstätte beziehen, ehe sie fertig ist. Ich breite die Schriftrollen auf dem Pult aus. Auf jedem Blatt steht in der rechten oberen Ecke der Name Roma – vielleicht will er in Rom beigesetzt werden. Aber ich bezweifle, dass er es bis dorthin schafft.
Es sind drei Zeichnungen. Die erste zeigt die Vorderseite mit dem seltsamen labarum -ähnlichen Zeichen in der Mitte des Giebeldreiecks. Die zweite skizziert die für die Wand vorgesehenen Gemälde. Auf der dritten ist eine Nische in der Rückwand zu sehen, in der er seine sterblichen Überreste aufbewahrt haben will. Darüber soll wohl eine Steinplatte hängen mit einer Inschrift, die er sehr deutlich markiert hat, damit der Steinmetz keine Fehler macht.
Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert,
wo jenseits aller Schatten hell die Sonne brennt.
Mir wird nun einiges klar. Porfyrius fand heraus, dass Alexander dieses Gedicht entdeckt hatte, und fiel in der Bibliothek über ihn her. Im Kampf riss Alexander ihm die Goldkette vom Hals. Sie rutschte unter das Regal, und Porfyrius hatte nicht die Zeit, sie zu bergen. Möglich, dass
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