Die Geheimnisse der Toten
Grabstätte wurde ein riesiger Scheiterhaufen errichtet, halb so hoch wie das Gebäude dahinter. Geschälte Baumstämme bilden seine Säulenbasis. Sie sind so bemalt, dass sie wie kannelierter Marmor aussehen. Aus Holzplanken wurden Zwischenböden eingezogen. Von den Rändern hängen goldene Banner herab, und oben auf der Spitze des Holzberges hockt ein lebendiger Adler in einem vergoldeten Käfig. Zu beiden Seiten des Scheiterhaufens wurden Holztribünen für die Senatoren und Generäle errichtet.
Ich eile um den Scheiterhaufen herum und besteige die Stufen zum Vorhof. Riesige purpurrote Banner, in die die Porträts der drei Söhne Konstantins gewebt sind, hängen von frei stehenden Säulen herab, bewacht von Gardisten in vergoldeter Prachtrüstung.
Ich finde deren Centurio. «Ist Publilius Porfyrius hier entlanggekommen?»
«Er ist in der Rotunde.»
Wieder hilft mir Konstantins Vollmacht weiter, in den Vorhof. Die offene Seite weist nach Süden, sodass die Mittagssonne auf die goldene Rundmauer fällt und von ihr gespiegelt wird. Die abgestrahlte Hitze und das gleißend helle Licht sind kaum zu ertragen.
Ich muss mich setzen. Ich bin ein alter Mann und nach dem langen Fußmarsch völlig erschöpft. Mein Mund ist ausgetrocknet, die Gelenke schmerzen, als wären sie voller Sand. Mir ist, als ertränke ich in einem schimmernden Meer aus Hitze und Licht.
«Gaius Valerius?»
Ich fahre herum, im Unklaren darüber, woher die Stimme kommt. Die brennende Sonne raubt mir die Sinne. Ich habe die Orientierung verloren. Wie ein blinder Fleck taucht eine dunkle Gestalt vor mir auf.
«Porfyrius?»
«Was willst du hier?»
«Ich habe dein Gedicht gelesen.»
«Du bist also dahintergekommen.» Ich kann sein Gesicht nicht sehen, stelle aber fest, dass seine Stimme nicht ungehalten klingt. «Ich hatte gehofft, der Kaiser hätte es zusammen mit den Schriften aus Alexanders Dokumentenkoffer vernichtet.»
«Es gab eine Kopie. Im Scrinium Memoriae.»
«Ein seltsames Ding, unser aller Gedächtnis.»
«Hast du Alexander getötet?»
Er lacht. «Armer Valerius. Du stolperst umher, jagst Gespenster und hast keine Ahnung, worum es wirklich geht.»
Ich mag solche Sprüche nicht mehr hören. «Dann erklär’s mir.»
«Komm und sieh selbst.»
Er ergreift meine Hand und führt mich um die Rotunde herum. Das Gewölbe schirmt die Sonne ab. Ich kann wieder sehen. Selbst das Mausoleum ist nicht, was es scheint. Es ist nur zur Hälfte mit Gold verkleidet, und auf der anderen Seite stehen noch die Gerüste der Dachdecker. Eine kleine Steintreppe führt auf eine Tür im Sockel des Bauwerks zu. Porfyrius klopft ein rhythmisches Zeichen auf das Holzblatt.
Die Tür geht auf. Meine schmerzenden Augen starren in völlige Dunkelheit. Porfyrius schiebt mich vorwärts.
«Dir geschieht nichts. Du hast zehn Jahre auf diesen Moment gewartet.»
Kräftige Hände halten meine Arme fest. Ich möchte schreien, aber eine Hand legt sich auf meinen Mund.
Die Tür fällt ins Schloss. Ich bin von Dunkelheit umhüllt.
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Rom – Gegenwart
Die Via Casilina – drei Meilen vom Stadtzentrum entfernt – ist eine unansehnliche Verkehrsader: vierspurig und in der Mitte von Gleisen durchzogen. Hinter der U-Bahn-Station San Marcellino erhebt sich eine rosafarben getünchte Kirche, die den frühchristlichen Märtyrern Peter und Marcellinus geweiht ist. Nebenan befindet sich ein Schulgebäude, das wie ein Fabriklager aussieht. Zwischen Kirche und Schule verläuft eine Betonmauer, in die zwei Tore eingelassen sind, ein großes und ein kleines. Das große führt auf einen asphaltierten Parkplatz, der auch als Schulhof dient; das kleine öffnet sich zu einem schmalen Durchgang zwischen zwei Mauern. Es ist versperrt.
Mark hatte sein Fernglas darauf gerichtet. Sie parkten vor einer Tankstelle auf der anderen Straßenseite – Mark und Abby, Barry und Connie. Abby konnte den Anblick der drei kaum noch ertragen.
«Macht nicht viel her», stellte Barry fest. Rund fünfzig Meter von der Straße entfernt zeigte sich über der Mauer die Ruine einer Rotunde aus Ziegeln. Das Dach war eingestürzt, und mehr als die Hälfte des Baus fehlte: eine erbärmliche Kusine der prächtigen Fatih-Moschee oder des Diokletian-Mausoleums in Split.
«Das Ding gehört dem Vatikan», sagte Connie, die auf der Rückbank saß. «Ich schätze, der kann sich nicht um alles kümmern.»
Mark fluchte. «Zuerst eine Moschee, jetzt gehört sie dem Papst. Gibt’s
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