Die Geheimnisse der Toten
Rom ausgestellt war. Die beiden anderen Zeilen sind nach meiner Kenntnis des klassischen Corpus nirgends zu finden. Ich würde sagen, sie sind eine echte Neuentdeckung.»
Kein Wunder, dass du sie dir unter den Nagel reißen willst. Abby faltete das Blatt zusammen und steckte es in ihre Tasche. Sie wollte etwas sagen, doch ihr fiel nichts Rechtes ein.
«Haben Sie den Vers selbst übersetzt?»
«Herr Lascaris wollte etwas haben für sein Geld.» Er bemerkte ihre Verwunderung und lachte. «Ich vergaß zu erwähnen, dass er mir hunderttausend Euro für meine Arbeit versprochen hat.»
Ein hoffnungsvoller Blick.
«Sie werden sich doch an diese Verabredung halten, oder?»
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10
Konstantinopel – April 337
Ich bin abgelenkt. Eigentlich sollte ich mich meiner Aufgabe widmen, aber ich kann mich einfach nicht konzentrieren und kehre in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit zurück. Ich liege auf dem Sofa im Triclinium meines Hauses und lese im Schein einer bronzenen Öllampe, was Alexander geschrieben hat. Selbst die Sklaven sind zu Bett gegangen.
Alexanders Chronicon führt mich durch meine eigene Geschichte. Was mich am meisten verwundert, sind die vielen Namen, die in den Jahren nach Konstantins Ernennung zum Kaiser ins Spiel kommen. Maxentius, Augustus genannt … Severus Cäsar, ermordet … Licinius, von Galerius zum Kaiser ernannt. Namen, die einst für Machtfülle standen. Doch deren Standbilder sind gestürzt; niemand spricht die Namen mehr aus. Es sei denn, sie werden tief in der Nacht flüsternd von einer Seite abgelesen.
Trier – März 307 – dreißig Jahre zuvor
Als das Heer Konstantin zum Kaiser ausrief, reagierte Galerius, wie man es von ihm kannte: ungehalten und abwartend. Er akzeptierte dessen Aufstieg, weil er zu schwach war, sich ihm zu widersetzen. Allerdings räumte er ihm nur die Würde des Unterkaisers ein, eines Caesaren, statt die des Augustus, worauf Konstantin als Nachfolger seines Vaters Anspruch gehabt hätte. Falls Galerius darauf spekulierte, Konstantin zum Verrat provozieren zu können, wurde er enttäuscht. Konstantin war mit seiner Unterordnung einverstanden und schickte Galerius seine Referenzen, um deutlich zu machen, dass er bereit war, unter ihm zu dienen.
Doch die Kaiser sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Nach dem ersten Caesar Augustus stand über mehr als zweihundert Jahre immer nur ein Mann an der Spitze des Reiches. Seit dreißig Jahren herrschen mehrere gleichzeitig. Ich frage mich immer noch, warum. Ist das Reich so groß geworden, dass ein Mann mit seiner Regierung überfordert wäre? Oder sind unsere Thronanwärter aus irgendwelchen Gründen verkümmert? Anders gefragt: Sind ihnen die hehren Fußstapfen der Gründer Roms zu groß? Wie auch immer, die Auswirkungen lassen sich nicht übersehen. Herrscher sind wie Kaninchen: entweder vereinzelt oder zuhauf. Diokletian teilte das Reich in zwei Hälften und begründete dann die sogenannte Tetrarchie, das heißt, es herrschten über beide Teile jeweils ein Augustus und ein Unterkaiser. Manche von ihnen hatten Söhne, die Nachfolge beanspruchten, andere dankten ab und besannen sich dann wieder eines anderen. Zuletzt behaupteten nicht weniger als sechs Männer den Titel Imperator Invictus – unbesiegter Herrscher – für sich.
Sechs Männer, ein jeder eifersüchtig auf den anderen, können nicht lange unbesiegt bleiben, jedenfalls nicht alle.
Zwei von ihnen sind Vater und Sohn: Maximian und Maxentius. Maximian, der Vater, wurde vor fünf Jahren überredet, sein Amt niederzulegen, aber der Ruhestand schmeckte ihm nicht. Sein Sohn Maxentius kam nicht zum Zug, fand aber – ähnlich wie Konstantin – ein ihm ergebenes Corps prätorianischer Wachsoldaten in Rom, die willens waren, ihn in Purpur zu kleiden. Was für ein Paar, Vater und Sohn, unmöglich alle beide! Mit ihren rosigen Wangen sehen sie aus, als wären sie ständig in Verlegenheit, und ihre großen femininen Augen haben alle nur erdenklichen Scheußlichkeiten erblickt.
Aber heute zeigen sie sich von ihrer besten Seite. Sie sind in Konstantins Hauptstadt Trier gekommen, um die Vermählung zwischen Maxentius’ Schwester Fausta und Konstantin zu feiern. Für Konstantin ist es bereits die zweite Ehe, die er eingeht, aber die erste muss uns an dieser Stelle nicht aufhalten. Ihn hat sie gewiss nicht aufgehalten, denn als sich ihm eine vorteilhaftere Gelegenheit bot, war die Scheidung schnell vollzogen.
Jeder tut so, als
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