Die Geheimnisse der Toten
draufsteht?»
«Vielleicht. Vor dem vierten Jahrhundert wurde die gebräuchliche Tinte aus Ruß hergestellt. Danach aber hat man die sogenannte Eisengallustinte verwendet, eine Lösung aus Säure und Eisensulfat, die sehr viel beständiger ist. Da diese Tinte winzige Eisenpartikel enthält, absorbiert sie das Licht auf andere Weise, und das lässt sich mit unserem Scan-Verfahren feststellen.»
Auf einem großen Flachbildschirm an der Wand über dem Scanner zeigte sich eine monochrome Aufnahme der Rolle, die scheinbar im leeren Raum rotierte. Sie sah jetzt aus wie ein Klumpen Kohle. Gruber tippte mit der Hand auf die Oberfläche, worauf die Abbildung auf sie zuzufliegen schien und den ganzen Bildschirm füllte. Sie drehte und drehte sich und zeigte dünne konzentrische Schichten.
«Das sind die Entwicklungen der Rolle», erklärte Gruber.
«Können Sie etwas darauf lesen?»
Gruber berührte die Ecke des Bildschirms und ließ ihn verlöschen. «Scannen ist leicht. Aber das Aufwickeln …» Er seufzte. «Stellen Sie sich vor, eine Zwiebel in kleinste Stücke zu würfeln. Und dann stellen Sie sich vor, Sie müssten alles wieder zusammensetzen, so, wie es war. Dazu ist eine enorme Rechenleistung nötig. Und wir haben es hier mit einem inoffiziellen Projekt zu tun. Ich kann nur dann daran arbeiten, wenn unser Computercluster nicht in Gebrauch ist.»
Abbys Hoffnung schwand. Was hatte Michael überhaupt mit dieser antiken Papyrusrolle vorgehabt? «Hat er Ihnen verraten, wie er an das Fragment gekommen ist?»
Gruber nahm wieder Platz, zündete sich eine zweite Zigarette an und ließ Abby eine Weile warten, ehe er auch ihr eine anbot. Sie nahm dankbar an.
«Mr. Lascaris war wohl ziemlich verschwiegen, nicht wahr? Jedenfalls hat er mir nicht gesagt, woher es stammt, und auch nicht, wie er daran gekommen ist. Er nannte mir nicht einmal seinen Beruf, aber dass er kein Wissenschaftler war, ahnte ich natürlich. Von Ihrem Besuch habe ich mir deshalb versprochen, ein bisschen mehr zu erfahren.» Er tippte Asche von der Zigarette in den Aschenbecher. «Immerhin weiß ich jetzt, dass er Diplomat war.»
Abby zog an ihrer Zigarette. Nikotin war wie ein Geschenk für sie. «Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.»
Er kniff die Augen ein wenig zusammen. «Sie wollten mir doch auch etwas zeigen.»
«Ja.» Sie holte die goldene Kette aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. Er trug immer noch seine weißen Handschuhe, hob die Kette zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe, griff nach der Lupe, die auf dem Schreibtisch lag, und betrachtete das Schmuckstück. Sein Auge hinter dem Vergrößerungsglas war so groß wie ein Tennisball.
«Hat er das hier zusammen mit dem Fragment aufgetrieben?»
Abby stieß einen Schwall Rauch aus. Sie hatte seit Jahren nicht geraucht und fühlte sich schwindlig. «Keine Ahnung. Von dem Fragment wusste ich ja nichts, bis Sie davon gesprochen haben.»
«Wissen Sie denn, was es mit diesem Anhänger auf sich hat?»
«Es ist ein altes christliches Symbol.»
«Genauer gesagt, eine Variation des Christusmonogramms – also des Monogramms von Kaiser Konstantin. Kennen Sie die Geschichte, die dahintersteht? Eines Nachts vor einer Schlacht hatte er eine Vision. Ihm erschien ein Engel, der sagte: In diesem Zeichen wirst du siegen. Es besteht aus den griechischen Buchstaben Chi und Rho, also den ersten beiden Buchstaben des Namens Christus. Konstantin ließ ein schmuckvolles Modell aus diesen Lettern entwerfen und als das sogenannte labarum auf die Schilde seiner Kämpfer malen. Mit diesen zog er in die Schlacht, die er tatsächlich gewann. So wurde Europa christlich.»
«Hat das irgendetwas mit dem Fragment zu tun?»
«Das Christusmonogramm wird seit Konstantin als christliches Symbol verwendet. Sie finden es wahrscheinlich in jeder Kirche in Trier. Übrigens, die Kette scheint mir eine Goldschmiedearbeit der Spätantike zu sein.»
«Was ist mit der Tinte? Sie sagten, sie enthalte Eisen und sei wohl erst seit dem vierten Jahrhundert in Gebrauch gewesen.»
«Ja, darauf lassen vorläufige Analysen schließen. Und dann wäre da noch die Sprache, in der der Text verfasst wurde. Die meisten erhaltenen Papyrusrollen tragen griechische Schriftzeichen. Diese hier sind lateinisch, weshalb ich vermute, dass unser Fragment auf das vierte Jahrhundert nach Christus zurückgeht. In jener Zeit war das römische Reich tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt.» Er zeigte durch das Fenster nach draußen auf die
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