Die Geheimnisse der Toten
würde mich gern mit Ihnen treffen.»
«Haben Sie einen Job für mich?»
«Nein, aber ein paar Fragen an Sie.»
London
Mark wartete im Foyer auf sie und ging mit ihr nach oben. Die riesigen, leeren Flure überwältigten Abby aufs Neue. In schattigen Nischen lauerten Statuen viktorianischer Staatsmänner, dargestellt als römische Generäle. Allegorien in Gestalt klassischer Grazien schauten vom Deckenfries herab. Vertrauen, Tapferkeit, Gerechtigkeit … Alles, woran sie einmal geglaubt hatte.
Mark führte sie wieder in den Sitzungssaal im dritten Stock. Die Fenster blickten hinaus auf ein gewaltiges Marmor-Atrium, wo vor hundert Jahren eine Monarchin die Huldigungen ihrer Untertanen entgegengenommen hatte. Jetzt wurde das Gebäude nur noch für Seminare und Cocktailpartys genutzt.
«Wie war die Reise? Schönes erlebt?»
«Ich war in Paris.»
«Mmm, wunderschön. Besonders zu dieser Jahreszeit. Haben Sie die aktuelle Matisse-Ausstellung gesehen? Wie lange waren Sie in der Stadt? Hatten Sie eine gute Unterkunft? Zucker?»
Sie tauschten Belanglosigkeiten aus, während er Kaffee eingoss, doch sie hatte das Gefühl, dass er sehr genau auf ihre Antworten achtete.
«Wann kann ich wieder arbeiten?»
«Sie scharren wohl mit den Hufen, was?» Seine Großspurigkeit war atemberaubend.
Mir sind in Kriegsgebieten Kugeln um die Ohren geflogen, als du noch unter der Bettdecke in schmutzigen Heftchen geblättert hast , entgegnete Abby im Stillen.
«Der Personalrat macht sich Sorgen um Ihr ‹Wohlergehen›.» Er schrieb die Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft. «Er besteht darauf, dass Sie gründlich durchgecheckt werden – medizinisch, psychiatrisch –, was Ihre Arbeit betrifft. Erst dann will man Sie wieder mit neuen Aufgaben betrauen.»
Abby zeigte sich von ihrer vernünftigsten Seite. «Ich soll zum Psychiater?»
«Sie leiden unter einem schweren Trauma, unter Stress und Verlust. In Ihrer Akte steht, Sie hätten auch Gedächtnislücken.»
«Vorübergehend. Schon mal davon gehört, dass Arbeit die beste Therapie ist?»
«Wir wollen nur Ihr Bestes.» Er setzte seine Brille ab und schenkte ihr einen Blick, mit dem er anscheinend zum Ausdruck bringen wollte: Nichts wird zwischen uns kommen. Sie hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben.
«Sie wollten mich sprechen? Worum geht’s?»
«Nicht ich.» Ein verlegenes Grinsen. «Ich bin nur der Mittelsmann. Der Laufbursche. Hallo.»
Ein Mann war im Türrahmen aufgetaucht. Er kam herein und warf einen Blick über die Schulter zurück. Er hatte kurzgeschnittene, dunkelgraue Haare, ein unangenehmes, hartes Gesicht und bewegte sich mit einer ökonomischen Präzision, die Abby mit Soldaten in Zusammenhang brachte.
«Mrs. Cormac, mein Name ist Jessop.»
«Jessop ist von Vauxhall», erklärte Mark.
Soll heißen, vom SIS, dachte Abby. Besser bekannt als MI6, wie es in dessen verquerer Jobbeschreibung stand.
Jessop setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und zog den Reißverschluss seiner Tasche auf. Er entnahm ihr einen kleinen Plastikstift.
«Was ist das? Eine Giftspritze?» Ihre Nerven lagen blank.
«Ein Audiorecorder.» Jessop drückte auf einen Knopf am Ende des Stifts. Ein rotes Licht leuchtete auf.
«Wir halten uns in unserer Vernehmung an die Regeln des Official Secrets Act. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen, und bestätigen Sie, darüber in Kenntnis gesetzt worden zu sein, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird.»
Vernehmung? «Official Secrets Act? Was soll das?»
«Ist nur eine Formalie», versicherte Mark. «Damit alles seine Ordnung hat. Es geht dabei vor allem um Ihren Schutz.»
Wie schön. «Was wollen Sie?»
«Wir glauben nicht, dass Michael Lascaris’ Tod ein Unfall war.»
Abby war drauf und dran, Jessop ihren Kaffee ins Gesicht zu schütten. «Natürlich war es kein Unfall! Sie sind ins Haus eingedrungen und haben ihn getötet.»
«Es soll ja auch vorkommen, dass Leute aus Versehen getötet werden», sagte Mark, um Entspannung bemüht. «Zur falschen Zeit am falschen Ort. Mr. Jessop wollte nur sagen, dass er ein solches Szenario für unwahrscheinlich hält.»
«Wir glauben, Michael Lascaris war tatsächlich Ziel des Anschlags», bestätigte Jessop.
Abby versuchte, ihren Atem zu kontrollieren. «Und?»
«Sie haben zu Protokoll gegeben, dass die Villa in Montenegro einem italienischen Richter gehört.»
«So sagte Michael.»
«Eingetragen ist sie auf den Namen einer in Venedig ansässigen Firma, die Luxusyachten ausstattet.
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