Die Geheimnisse der Toten
hohe Basilika. «Bedauerlicherweise fühlte sich Kaiser Konstantin offenbar nicht lange wohl in Trier. Er baute eine neue Hauptstadt, Konstantinopel, das heutige Istanbul – ein neues Rom für ein neues christliches Reich.»
Abby interessierte sich nicht für Grubers Nachhilfe in Geschichte. Sie spürte ihr Herz unter dem Verband pochen.
«Woher wissen Sie, dass die Schrift lateinisch ist?»
«Wie bitte?»
«Sie sagten, das Manuskript sei in Latein verfasst, gleichzeitig geben Sie mir zu verstehen, das Scan-Ergebnis noch nicht analysiert zu haben. Wie können Sie dann wissen, in welcher Sprache der Text geschrieben wurde?»
Gruber stand auf. «Vielen Dank für Ihr Interesse, Frau Cormac, aber ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Ich habe zu tun und Ihnen bereits zu viel Zeit gewidmet.» Er ging um den Schreibtisch herum und steuerte auf die Bürotür zu. Abby stellte sich ihm gleich neben der Maschine in den Weg und legte ihre Hand auf die Glasklappe.
«Wenn Sie mich jetzt wegschicken, nehme ich das hier mit.»
Grubers Schnauzbart zuckte. «Das wäre Diebstahl.»
«Erstatten Sie Anzeige.»
«Aber Sie können das Manuskript doch gar nicht lesen. Allein der Versuch wird es zerstören.»
«Es gibt noch andere solcher Maschinen. Vielleicht werden die mir weiterhelfen.»
In ihrer Ausbildung beim Auswärtigen Amt war der Einsatz von Druckmitteln unter dem Stichwort Leverage ausführlich abgehandelt worden. In der Feldarbeit hieß es schlicht und einfach: Nehmt sie in die Mangel.
Gruber ließ den Kopf hängen und setzte sich auf die Schreibtischkante. «Glauben Sie wirklich, jemand anderes würde Ihnen helfen? Einer unbekannten Frau mit einem Manuskript, das wahrscheinlich gestohlen ist? Vielleicht versuchen Sie’s an einer amerikanischen Universität. Die Amerikaner werden es sofort konfiszieren und wegschließen, in einem Raum, der weder temperatur- noch luftfeuchtigkeitsgeregelt ist. In zehn oder zwanzig Jahren wird nur noch Staub davon übrig geblieben sein.»
Abby griff zur Zigarettenpackung und bot Gruber eine seiner eigenen Zigaretten an. Er nahm sie seufzend entgegen und ließ sie sich von ihr anstecken.
«Danke.»
Auch sie zündete sich wieder eine an und fragte sich, ob mit der zweiten schon von einer schlechten Angewohnheit die Rede sein konnte. «Fangen wir doch einfach mal mit der Wahrheit an.»
«Ich habe Sie nicht belogen.» Er sah, dass sie ärgerlich wurde, und winkte ab. «Wie gesagt, die erforderliche Rechenleistung ist enorm. Unsere Rechner werden wahrscheinlich Wochen brauchen. Und wenn wir das Bild dann haben, werden wir es nicht einfach lesen können wie ein Buch. Jedes einzelne Zeichen wird aufwendig zu dechiffrieren sein.»
Er blickte zu Boden und blies Rauch in Richtung seiner Schuhe.
«Aber zugegeben, ich war so neugierig auf dieses Dokument, das weder eine Vergangenheit noch einen Besitzer zu haben scheint, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, ein paar Zeilen zu entschlüsseln.»
Er lehnte sich zurück und griff in die Schreibtischschublade, der er ein Blatt Papier entnahm, das wie von Kinderhand vollgekrakelt war. Als Abby einen genaueren Blick darauf warf, erkannte sie, dass es sich um Textbausteine handelte, kreuz und quer durcheinandergewürfelt, durchgestrichen, neu geschrieben und abermals durchgestrichen, bis es auf der Seite keinen Platz mehr gab. Das Schriftbild sah aus, als hätte sich ein Wahnsinniger daran ausgetobt.
«Auf der Rückseite.»
Schon besser. Drei Absätze, jeweils vier Zeilen. In Latein, Englisch und Deutsch.
Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert,
wo jenseits aller Schatten hell die Sonne brennt,
Rettungszeichen, das den Weg dorthin illuminiert
mit unbesiegtem Glanz im Lebensorient.
Als Abby dies las, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie glaubte zu spüren, wie das Blut unter den Verbänden pulsierte. Was hatte Jenny noch einmal gesagt: Vielleicht ist es sehr persönlich? Eine Botschaft aus dem Jenseits gewissermaßen.
«Haben Sie eine Ahnung, was das bedeuten soll?»
«Der Sprache nach könnte es tatsächlich ins vierte Jahrhundert passen. Das Bild ist neuplatonisch, und das Wort ‹unbesiegt› – invictus – war damals ein Beiwort der römischen Kaiser.»
«Aber wissen Sie, wer diese Zeilen geschrieben hat?»
Gruber kratzte sich am Hals, wo der Hemdkragen die Haut aufgescheuert hatte.
«Die ersten beiden Zeilen entsprechen der Inschrift eines Grabsteins, der früher im römischen Museo dei Fori Imperiali in
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