Die Geheimnisse der Toten
Konstantins Vater eine der älteren Töchter Maximians, und nun hatte Konstantin sich seiner ersten Frau entledigt, um wiederum ein Kind dieses äußerst fruchtbaren alten Mannes zu ehelichen. Sein angeheirateter Onkel wird jetzt sein Schwager. Sogar die Frauen dieser Familie sind Usurpatoren.
Ein kleiner Junge taucht hinter Helena auf und zupft an ihrem Gewand. Sie zu berühren würde sonst niemand wagen, aber Crispus ist ihr Enkel, der sich ihr gegenüber noch mehr erlauben kann als Konstantin. Wahrscheinlich erinnert er sie an Konstantin, als er noch ein Junge war. Selbst wenn man Konstantin nur von den Münzen kennt, in die sein Profil geprägt ist, fällt sogleich die Ähnlichkeit des jungen Crispus mit seinem Vater auf. Er hat das gleiche runde Gesicht, dasselbe helle Licht in den Augen. Helena hebt den Kleinen aufs Bett. Konstantin nimmt ihn in den Arm, fährt ihm mit der Hand durchs Haar. Fausta lässt sich von ihm einen Kuss auf die Wange geben. Sie setzt ein Lächeln auf, das ihre Augen nicht erreicht. Der Blick, den sie dem Jungen schenkt, lässt mich an einen Kuckuck denken, der die Eier eines anderen Vogels in Augenschein nimmt.
Crispus’ Lehrer, ein dünner Mann mit langem Bart, eilt herbei und holt ihn vom Bett. Die Gästeschar lacht.
«Was glaubst du, wird aus ihm, aus dem jungen Crispus?»
Ein Höfling, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann, hat sich hinter mich gestellt. Er hebt seinen Kelch in Richtung Ehebett, als wollte er auf die Gesundheit des glücklichen Paares anstoßen.
«Wird der Kaiser ihn verstoßen? Was glaubst du?»
Rätselraten ist mir zuwider. «Er ist und bleibt Konstantins erstgeborener Sohn», antworte ich entschieden. «Er wird ihn nie und nimmer verstoßen.»
Konstantin weiß, wie es ist, wenn die eigene Mutter den Platz räumen muss für eine jüngere, verwandtschaftlich besser gestellte Frau. Aber das hat ihn nicht daran gehindert, dem schnöden Beispiel seines Vaters zu folgen.
Zu viele Frauen und zu viele Kaiser. Und zu viele Söhne, die die gleichen Fehler begehen wie ihre Väter. Kein Wunder, dass das Reich im Krieg liegt mit sich selbst.
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11
Im Thalys, nahe Reims – Gegenwart
Was hatte Michael mit einer siebzehnhundert Jahre alten Schriftrolle im Sinn?
Warum war er bereit, hunderttausend Euro für deren Entzifferung zu bezahlen, wenn er gar nicht wissen konnte, was darin geschrieben steht?
Und wo wollte er so viel Geld lockermachen?
Diese Fragen schwirrten Abby durch den Kopf, während sie an ihrem Fensterplatz auf die verregnete Landschaft starrte. Eine Leuchtanzeige über der Tür zwischen den Waggons zeigte die Geschwindigkeit an. 287 km/h. Rasend schnell – wohin?
Michael hatte jede Menge Geld. Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass sie ihn nicht zuletzt deshalb attraktiv fand. Nicht des Geldes selbst wegen, sondern wegen der lockeren, extravaganten Art, wie er damit umging. Als heranwachsender Tochter eines Pfarrers wurde ihr beigebracht, dass Luxus nicht nur unerschwinglich, sondern, was schwerer wog, unmoralisch war. Ein Mann, der sein Geld mit beiden Händen und ohne Skrupel unter die Leute brachte, hatte sie später umso mehr beeindruckt. Sein Sportwagen war selbst für die Gangster in Priština tabu gewesen; in den Restaurants, die sie besuchten, flossen Champagner und edelste Weine; und wo ein einfaches Doppelzimmer gereicht hätte, buchte er eine Hotelsuite. Wenn Abby gerade glaubte, sie habe sich daran gewöhnt, trumpfte er mit Ausgaben auf, die für sie noch haarsträubender und zugleich faszinierender waren. Und wenn sie etwas sagte, zuckte er nur mit den Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Man kann’s ja am Ende doch nicht mitnehmen.
Ein Telefon fing an zu trällern. Sie erkannte das Klingelzeichen nicht. Erst als andere Fahrgäste in ihre Richtung starrten, wurde ihr klar, dass es ihr Handy sein musste. Abby hatte es noch nie klingeln hören. Sie nahm den Anruf entgegen.
«Abby? Hier ist Mark.» Es dauerte einen Moment, ehe sie den Namen einordnen konnte. «Vom Auswärtigen Amt. Sind Sie außer Landes?»
Sie zögerte. Woher wusste er das? Vielleicht erkannte man es am Rufton.
«In London gab es nicht viel für mich zu tun», antwortete sie. «Ich dachte, ein Tapetenwechsel könnte mir guttun.»
«Richtig. Wer oder was sollte Sie auch aufhalten? Kommen Sie zurück?»
«Bin gerade auf dem Weg zurück.»
«Großartig. Melden Sie sich bitte, wenn Sie wieder da sind. Ich
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