Die Geheimnisse der Toten
Diese wiederum gehört zu hundert Prozent einem Unternehmen in Zagreb, dessen wirtschaftlicher Eigentümer nach unseren Recherchen ein gewisser Zoltán Dragović ist.»
«Müsste ich den kennen?»
«Sie haben auf dem Balkan gearbeitet und nie den Namen Zoltán Dragović gehört?», fragte Jessop.
Mark blickte von seinem Schreibblock auf. «Wie gesagt, sie hat Erinnerungslücken», gab er zu bedenken. Schön, so viel Hilfsbereitschaft zu erfahren.
Aber die Erinnerungen kehrten zurück. Abby legte ihre Hände auf den Tisch und schaute Jessop an.
«Er ist ein Gangster.»
Jessop lachte trocken. «So kann man’s auch sagen.»
«Sie verstehen», ließ Mark von sich hören, «es sieht nicht gut aus, wenn ein hochrangiges Mitglied der EU-Zollbehörde in einer Villa Urlaub macht, die einem der meistgesuchten Männer Europas gehört.»
«Das wusste Michael nicht», beteuerte Abby.
«Hat er Dragović irgendwann einmal erwähnt?»
«Nie.»
«Haben Sie seit Ihrer Rückkehr nach England mit irgendwelchen Kontaktpersonen von Michael Verbindung aufgenommen?»
«Kontaktpersonen?» Sie starrte ihn ungläubig an. «Das klingt ja so, als hielten Sie Michael für kriminell.»
«Kollegen? Freunde? Familienangehörige?»
«Ich habe seine Schwester in York besucht. Ich wollte ihr mein Bedauern zum Ausdruck bringen.»
«Wie sind Sie an ihre Adresse gekommen?»
«Jemand hat sie mir zukommen lassen.» Sie warf einen verzweifelten Blick auf Mark, doch der notierte sich etwas und sah sie nicht an. «Das waren Sie doch, oder?»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen.»
Ruhig Blut , redete sie sich gut zu. Du hast schon Schlimmeres durchgemacht. In einer entlegenen Baracke voller Männer und sie als Einzige unbewaffnet, den ekligen Geruch von Schweiß, Blut und Waffenöl in der Nase. Männer – zum Teil auch noch junge Burschen –, die mit ihren Knarren auf sie zielten, die Nasenflügel gebläht vom Kokain, mit dem sie sich Mut machten. Ihr einziger Schutz war ein Stück Papier gewesen, ausgestellt von einem Tausende von Kilometern entfernten Gericht.
Aber das hatte sich woanders zugetragen – in der äußeren Dunkelheit , wie sich manche Altgediente im Auswärtigen Amt ausdrückten. Hier war sie zu Hause. Was sie all die Jahre in jenen Höllenlöchern hatte überleben lassen, waren ihre Diplomatenausweise gewesen – und auch der unerschütterliche Glaube, dass alles, was ihre Regierung beschloss, letztlich zum Guten in der Welt führen würde, selbst dann, wenn sie schreckliche Fehlentscheidungen traf. Und jetzt hatten Vertreter ebendieser Regierung sie in einen Raum gesperrt und drehten ihr die Worte im Mund herum.
«Weshalb sind Sie nach Paris gefahren?», wollte Jessop wissen.
«Ich wollte mir ein paar Tage Urlaub genehmigen.»
«Vor nicht einmal zwei Monaten sind Sie einem fürchterlichen Anschlag zum Opfer gefallen. Gerade mal zwei Wochen zurück in der Heimat, brechen Sie wieder zu einem Auslandsabenteuer auf.»
«Mark meint, solche Eskapaden seien typisch in meiner Verfassung. Er hält mich für übergeschnappt.»
Jessop runzelte die Brauen und musterte Abby mit kritischem Blick. Vielleicht, dachte sie, ist seine Miene als Kompliment zu verstehen. Mark nahm eine Akte in die Hand und blätterte darin herum.
«Unser Mann in Podgorica berichtet, dass am Tatort eine Goldkette gefunden wurde. Er sagt, sie gehört Ihnen.»
«Richtig.»
«Ein Geschenk von Michael?»
«Ja.»
«Kann ich sie mal sehen?»
Bevor sie antworten konnte, sagte Mark: «Um Ihnen Peinlichkeiten zu ersparen – bei der Kontrolle im Eingang ist den Kollegen vom Sicherheitsdienst die Kette in Ihrer Handtasche aufgefallen. Sie war nicht zu übersehen.» Er hielt die Hand auf. «Darf ich bitten?»
Sie hätte ihm am liebsten seine Gönnermiene ein für alle Mal aus dem Gesicht gewischt, wusste aber nicht, wie. Sie hätte am liebsten Reißaus genommen, aber das Rotlicht über der Tür ließ vermuten, dass sie verriegelt war. Sie hätte am liebsten geschrien, wollte sich aber keine Blöße geben.
Abby kramte in ihrer Tasche und holte die Kette hervor. Mark zeigte ein Lächeln, das sie noch aggressiver machte.
«Ich denke, wir sollten das Schmuckstück für eine Weile unter Verschluss nehmen.»
Natürlich , dachte sie dumpf. Sie sah, dass die beiden gespannt auf eine Reaktion von ihr warteten. Die aber konnte sie zurückhalten.
Sie nahm die Tasche und stand auf. «Ich möchte jetzt gehen.»
Mark musterte die goldene Kette. Jessop eskortierte sie
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