Die Geheimnisse der Toten
fragte damals eine Schlagzeile in der serbischen Zeitschrift Vreme . Später wurde bekannt, dass er in dieser Zeit europäische Großstädte bereiste. London, Paris, Amsterdam, Frankfurt, Rom, Istanbul – alles Orte, an denen der Drogenhandel blühte. Manche behaupteten, er habe als Tourist dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einen Besuch abgestattet und sich, von den Kontrollen unbehelligt, eine Viertelstunde lang in den Zuschauerraum gesetzt.
Sein Gönner Slobodan Milošević hatte 1999 ein Comeback mit der Wiederaufnahme eines seiner größten Hits versucht und, wie zuvor Bosnien, den Kosovo überfallen. Diesmal gewährte ihm die ungeduldig gewordene NATO nur drei Monate, bevor sie ihre Bomber losschickte. Jeder glaubte, Dragović würde sich dem Raubzug der serbischen Paramilitärs anschließen, doch dem war nicht so. Vielmehr verlautete aus einigen Quellen, er würde die nationalalbanische UÇK mit Waffen beliefern, gekauft aus Restbeständen der IRA. Vielleicht war dies als eine edelmütige Geste seiner albanischen Herkunft gegenüber zu verstehen, vielleicht hatte er auch Milošević’ Scheitern vorausgesehen und sich deshalb auf die Seite seiner Feinde geschlagen. Ein Jahr später hieß es gerüchteweise, er helfe albanischen Terroristen, den Bürgerkrieg zu schüren und ins benachbarte Makedonien auszudehnen.
Aber auch Dragović scheiterte, zumindest in dieser Hinsicht. Die NATO rückte in den Kosovo und nach Makedonien vor und lehrte die Gangster ein Beispiel für militärische Überlegenheit. Dragović ließ von seinem politischen Vorhaben ab und widmete sich wieder der Mehrung des Geldes. Während sich die Justiz seine Verbrecherkollegen vorknöpfte – entweder in zähen Verhandlungen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder in Kurzform auf den Straßen Belgrads –, war Dragović als einer der wenigen alten Revolverhelden, die ihre Waffen immer noch nicht abgegeben hatten, in den Untergrund abgetaucht. Der Internationale Strafgerichtshof legte ihm Kriegsverbrechen zur Last und ließ nach ihm fahnden; Interpol suchte ihn wegen Drogen- und Menschenhandels. Aber Jahre vergingen, und das Interesse an ihm ließ nach. 2008 wurde er von der Polizei in Istanbul erwischt, entkam aber der Haft, bevor seine Auslieferung beantragt werden konnte. Gerüchte, wonach russische Sicherheitsdienste als Gegenleistung für erbrachte Gefälligkeiten seine Flucht ermöglicht hätten, wurden heftig bestritten.
Abby lehnte sich zurück. Ihr war unwohl, nicht nur der Lektüre wegen. Sie hatte auch ein flaues Gefühl, was die eigenen Erinnerungen anging. Diesem Dragović war sie zwar persönlich nie begegnet, doch hatte sie schon während ihrer Zeit in Priština jede Menge Informationen des Internationalen Strafgerichtshofs über seinen Fall gesammelt. Einmal war sie mit einem NATO-Trupp in einem entlegenen Winkel Bosniens unterwegs gewesen, wo sie ein verlassenes Gehöft auf den Kopf gestellt hatten, in dem angeblich Hinweise auf Dragović gesehen worden waren. Aber sie hatten nur Berge von Abfall gefunden, deponiert von den Nachbarn, und eine tote Krähe.
Sie betrachtete das Porträt, das ihr vom Bildschirm entgegensprang. Es gab nicht viele Fotos von Dragović. Dieses war klein und unscharf, wie aus dem Hintergrund einer Aufnahme kopiert, die etwas anderes im Focus hatte. Zu sehen war nur ein schmales Gesicht mit kantigem Kinn und zwei pechschwarzen Augen, die in die Kamera starrten, als hätten sie gerade erst den Fotografen bemerkt.
Was hatte Michael mit dir zu schaffen?, fragte sie sich. Dragović führte einen der größten Schmugglerringe in Europa an, dessen Drehkreuz der Kosovo war. Michael musste ihm im Rahmen seiner Arbeit über den Weg gelaufen sein.
Warum hast du mich in sein Haus mitgenommen?
Sie drückte so fest auf die Maustaste, dass sie sie fast kaputt machte. Das Fenster schloss sich, das Gesicht verschwand.
Es war stickig im Lesesaal. Abby brauchte Luft und ging nach draußen, vorbei an Glasvitrinen mit uralten Folianten, den Schätzen der Bibliothek, und die Treppe hinunter auf die Piazza. Sie sehnte sich nach einer Tablette gegen Schmerzen, meinte dann aber, mit einer Zigarette vorliebnehmen zu können.
Als sie in ihrer Handtasche nach der Packung kramte, sah sie ihr Handy leuchten. Sie hatte es im Lesesaal auf stumm geschaltet, und offenbar war ihr eine Textnachricht geschickt worden. Das Herz wurde ihr schwer. Es gab nur eine Person, die über dieses Handy Kontakt
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