Die Geheimnisse der Toten
rückte näher, um zuzuhören, und wartete darauf, dass sie jemand am Ärmel zupfte oder Blickkontakt mit ihr aufnahm.
«Viele Historiker vertreten heute die Ansicht, dass der Triumphbogen ursprünglich von Maxentius gebaut wurde, Konstantins Feind, der ihn sich nach der gewonnenen Schlacht kurzerhand zu eigen gemacht hat.»
Auch die Touristen, die nur mit einem Ohr zugehört hatten, merkten plötzlich auf.
«Wer glaubt, die Römer hätten all ihre Bauten von Grund auf neu errichtet, irrt», fuhr die Reiseführerin fort. «Der Marmorschmuck dort zum Beispiel stammt von anderen Monumenten. Und die großen Reliefs zwischen den Statuen da oben stellen Motive aus den Markomannenkriegen dar, weshalb man annimmt, dass sie für einen Triumphbogen zu Ehren von Markus Aurelius bestimmt waren. Der Fries hing ursprünglich im Trajansforum, das im zweiten Jahrhundert gebaut wurde, und die tondi darüber stammen aus der Zeit Hadrians – das ist der, dem wir in England den Hadrianswall verdanken. Überall wurden die Gesichter herausgehauen oder umgearbeitet, sodass sie Konstantin gleichen.»
Die Touristen blickten neugierig empor zu den Schlacht- und Jagdszenen und dem kahlhäuptigen Kaiser in ihrer Mitte. Dann schossen sie noch letzte Fotos und ließen sich danach zum nächsten Anschauungsunterricht in Sachen Geschichte führen. Abby blieb zurück wie ein Mauerblümchen, das darauf wartet, endlich zum Tanz aufgefordert zu werden. Niemand kehrte zurück, niemand kam.
Sie ging um das Monument herum, um zu sehen, ob sie jemanden übersehen hatte. Sie schaute auf ihrem Handy nach, für den Fall, dass eine Textnachricht eingegangen war. Dann las sie die letzte Nachricht zum hundertsten Mal und fragte sich, ob sie etwas falsch verstanden hatte.
ARCUMTRIUMPHISINSIGNEMDICAVIT. Freitag 17h. Ich kann helfen.
Die gepixelten Buchstaben entsprachen der Inschrift, die über dem zentralen Bogen in den Marmor gemeißelt war. Sie las nun auch den Rest und verglich ihn mit der Übersetzung, die sie in der British Library kopiert hatte.
Zum x-ten Mal schaute sie auf ihre Uhr. 5:19 Uhr.
Er kommt nicht, dachte sie missmutig, wütend darüber, die Reise vergeblich gemacht zu haben. Sie fühlte sich von den Ruinen der Vergangenheit verspottet. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einer anonymen Textnachricht wegen nach Rom zu fahren? Sie griff nach einem der Poller, die das Monument vor dem Straßenverkehr schützten, glaubte, sich daran festhalten zu müssen, um nicht davonzuschweben.
Schritte – eine weitere Touristengruppe näherte sich, diesmal angeführt von einem älteren Herrn mit weißem Schnauzbart, Tweedanzug und Stockschirm. Wieder schaute sich Abby die Gesichter genau an. Es waren allesamt Teenager auf Klassenfahrt, wie es schien, und niemand interessierte sich für sie.
«Der Triumphbogen des Kaisers Konstantin», verkündete der Fremdenführer. «Gebaut im Jahr 312 zum Gedenken an Konstantins Sieg in der Schlacht an der Milvischen Brücke. Konstantin der Christ und sein Widersacher Maxentius der Heide. Konstantin setzte sich durch, und Europa wurde christlich.»
Die Schüler beschäftigten sich mit ihren Handys und MP3-Playern. Ein paar von ihnen machten Fotos. Abby war wie versteinert, doch plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf.
«Entschuldigen Sie», sagte sie. «Wo ist eigentlich die Milvische Brücke? Ich meine, gibt es die überhaupt noch?»
Der Fremdenführer schien dankbar für ihr Interesse zu sein. «Der Ponte Milvio. Er ist hier in Rom, am Ende der Via Flaminia, noch hinter der Villa Borghese. Ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare», fügte er hinzu, um die Jugendlichen hellhörig zu machen.
«Danke.»
Abby fand ein Taxi vor der U-Bahn-Station am Kolosseum. An einem Freitagabend um halb sechs waren die Straßen in Rom verstopft. Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie die Via Flaminia erreichten. Sie saß auf der Rückbank, hielt sich am Türgriff fest und starrte nach vorn. Es hatte zu regnen angefangen; dicke Tropfen prasselten auf die Windschutzscheibe.
Er widmete diesen Bogen als ein Zeichen seines Triumphs. Die Inschrift bezog sich auf den Bogen, aber der Bogen war seinerseits nur ein Symbol, das auf die bezeichnete Schlacht hinwies. Abby hatte nur wenig Hoffnung und glaubte sich in die Irre geführt. Trotzdem musste sie es versuchen.
Die Brücke überspannte den Tiber am Nordrand der Stadt, wo der Fluss aus seinem natürlichen Verlauf in das Korsett gemauerter Uferbänke gezwängt wurde.
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