Die Geheimnisse der Toten
Solange ich ihn kenne, strahlt er eine Zuversicht aus, die einen selbst das glauben lässt, was eigentlich unmöglich ist. Und während dieses Feldzugs strahlt sie heller denn je. Ich vergleiche Konstantin mit einem aufgeschnittenen Kokon, der den Schmetterling bereits, wenn auch noch in flüssiger Form, erkennen lässt. Eines Tages werde ich auf Konstantin blicken und den Eindruck haben, ihn kaum zu kennen.
Er beißt in einen Apfel. «Erinnerst du dich an die Straße nach Autun? Als wir vor drei Jahren gegen die Franken ins Feld zogen?»
Es dauert einen Moment, aber dann erinnere ich mich. Wir marschierten in der Mittagszeit; der blaue Himmel war dunstig. Von einer grellen Aureole umfangen, glühte die Sonne wie geschmolzenes Gold, und aus ihrer brennenden Mitte stachen vier Strahlen in Kreuzform hernieder.
Wie ein Mann sank das ganze Heer auf die Knie und dankte dem Gott der unbesiegten Sonne, dem Schutzheiligen Konstantins. Noch für die Dauer eines vollen Tages herrschte unter den Männern eine so verklärte Stimmung, dass man hätte meinen können, sie seien von Gottes Hand berührt und irre geworden. Es war eines jener Wunder wie der blutrote Mond oder das Wetterleuchten, mit dem uns die Götter an ihre Allmacht erinnern.
«Ja, ich weiß noch, wir hatten schwer mit den Franken zu kämpfen», antworte ich.
Konstantin lacht. «Du freust dich schon auf die nächste Schlacht, nicht wahr?»
«Sie lässt bestimmt nicht lange auf sich warten.»
Er hat sich auf dem Ellbogen aufgerichtet und lässt den Apfelkern zwischen den Fingern kreisen. «Aber was, wenn wir die Welt wirklich verändern können? In eine Welt, in der wir sommers mit den Kindern spielen und Wein trinken und uns nicht zum Krieg rüsten?»
«Dann wärst du ein Gott.»
Er denkt darüber nach. «Weißt du, was die Christen sagen? Sie behaupten, ihr Gott, Christus, sei gekommen, um die Welt zu erlösen. Um Frieden zu bringen statt Krieg.»
Wenn dem so ist, hat er auf der ganzen Linie versagt. Aber das spreche ich nicht aus. Es würde uns auseinanderbringen.
«Alle wollen Frieden, der geringste Knecht auf dem Feld bis hin zum stolzen Senator auf dem Palatin – Frieden. Weißt du, was eine kleine Ortschaft am Tiber zur größten Macht der Geschichte hat aufsteigen lassen? Die Sehnsucht nach Frieden, danach, sich frei auf offener Straße bewegen zu können, ohne Angst haben zu müssen, dass hinter jedem Hügel Gefahr lauert. Wir haben die Grenzen der Zivilisation so weit ausgedehnt, dass sie zu brechen drohen.»
Durch einen Spalt im Vorhang sehe ich seinen Sohn Crispus, der mit seinem Lehrer Griechisch übt. Konstantin spricht Griechisch, beherrscht aber nicht die Schrift. Sein Sohn soll sie lernen.
«Das Kreuz am Himmel war eine Botschaft, Gaius. Gott streckte seine Hand aus, damit ich seiner Herrlichkeit teilhaftig werde. Er machte mich zu seinem Werkzeug, das der Welt zum Frieden verhilft.»
Er schwingt die Beine von der Liege und steht auf. Ich folge ihm.
«Wir werden den Kampf gegen Maxentius gewinnen, und zwar so, dass niemand mehr daran zweifelt, woher unsere Kraft kommt. Gott im Himmel, ich bitte dich, lass dies die letzte Schlacht sein, die wir schlagen.»
«Gott im Himmel, wir bitten dich», stimme ich gehorsam ein. Und in dieser Nacht, als alle schlafen, treffe ich mich mit meinen Brüdern in einer Höhle, wo wir das Blut eines Bullen vergießen, damit unser Vorhaben gesegnet wird.
Der Oktober neigt sich dem Ende zu, als wir eines kühlen Morgens unser Heer für die letzte Schlacht aufstellen. Vor uns liegen eine Armee, ein Fluss und eine Stadt. In dieser Reihenfolge, die nicht unerheblich ist. Anstatt im Schutz der unbezwingbaren Mauern Roms auf uns zu warten, hat Maxentius seine Legionen über den Tiber geführt. Offenbar haben ihm seine Auguren gesagt, dass, wenn er sich uns auf dem Schlachtfeld stelle, Rom von einem Tyrannen befreit werde. Und niemand sieht sich selbst als Tyrann.
Eine Stunde vor Tagesanbruch reitet Konstantin unsere Reihen ab. Grabmäler säumen die Straße. Anschließend besteigt er ein Mausoleum, dessen Marmortäfelung längst heruntergerissen worden ist, um eine Ansprache zu halten. Selbst ich weiß nicht, was er sagen wird. Tautropfen rinnen von meinen Stiefeln, der Mond geht unter. Mir wird warm im Gedränge der Männer. Es ist, als sei über alle Dinge die Dämmerung hereingebrochen.
«Der höchste Gott hat mir einen Traum eingegeben», verkündet Konstantin. Seine Rüstung glänzt wie ein Stern am
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