Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
Vom Netzwerk:
Schwiegervater, was dieser ihm damit dankte, dass er ihn im Schlaf zu erdolchen versuchte. Aber auch dieser Plan scheiterte, weil er verraten wurde. Konstantin war mit seiner Geduld am Ende und forderte Maximian auf, Gift zu trinken.
    Aber sein Sohn Maxentius, Konstantins Schwager, herrscht nach wie vor über Rom und Italien, ohne als Augustus anerkannt zu sein, was ihm aber keinerlei Skrupel bereitet. Jetzt, da Galerius tot ist, kann Konstantin es sich leisten, seine Aufmerksamkeit auf den Süden zu richten.

    Die Priester meinen, wir sollten nicht gehen. Sie haben sich Rat eingeholt: Tiere nach Vorschrift geschlachtet, die Organe freigelegt und die Zeichen gedeutet. Der Zeitpunkt für einen Feldzug sei ungeeignet, weissagen sie. Doch Konstantin glaubt nicht an den Kriegsrat toter Tiere. Ein Großteil von Maxentius’ Armee liegt in Verona, an der Nordostgrenze seines Reiches. Er erwartet einen Angriff vom Balkan. Ein Angriff vom Nordwesten wird ihn unvorbereitet treffen. «Man zeige mir im Eingeweide, wo das vorhergesagt ist», höhnt Konstantin.
    «Mein Bruder folgt immer der Empfehlung der Auguren», erklärt Fausta – ob als Verweis oder Vorschlag, lässt sich kaum sagen. Fünf Jahre nach der Hochzeit wird die reife Frucht ihrer Jugend allmählich hart wie eine Dattel, die der Sonne ausgesetzt ist. Als ihr Vater Konstantin zu töten versucht hat, war sie es, die in die Schlafkammer kam, um ihren Mann zu warnen. Jetzt haben wir es auf ihren Bruder abgesehen, doch diese Augen mit den langen Wimpern sind so leer und unschuldig wie eh und je.
    Es ist ein Wunder, dass du den alten Mann mit Gift töten konntest, denke ich. Denn nichts anderes fließt in den Adern dieser Familie.
    Und so überqueren wir die Alpen wie Hannibal vor sechs Jahrhunderten. Konstantin ist ein besserer Augur als seine Priester. Segusio, das Tor zu Italien, brennen wir mitsamt der Garnison nieder. Der Garnison in Turin ist dies eine Lehre. Man wartet dort nicht erst darauf, dass wir sie einnehmen, sondern kommt uns mit Waffen entgegen. Konstantin sieht auch diesen Plan voraus, greift die Flanken an und wirft mit seiner Kavallerie das Heer so wuchtig zurück vor die Mauern der Stadt, dass der Aufprall der Leichen das Tor sprengt.
    Wie kann man Konstantin schlagen? Das wissen auch die Bürger von Mailand nicht – sie öffnen ihre Tore und unterwerfen sich. Verona leistet stärkere Gegenwehr und durchbricht fast unsere Reihen. Konstantin wirft sich ins Getümmel. Es kommt zu einem Hauen und Stechen, dass man meinen könnte, er wolle seinen Weg nach Rom mit Leichen pflastern. Ein Speer verfehlt nur knapp seinen Kopf; einen Wimpernschlag lang hängt die ganze Geschichte in der Schwebe.
    Wir gewinnen die Schlacht. Die Straße nach Rom ist frei.

    Unsere Zeit ist gesegnet. Der September geht vorüber, die Oktobersonne fällt golden auf goldene Blätter. Wir marschieren unter blauem Himmel, die Luft ist frisch und rein. In großer Klarheit breitet sich die Welt vor uns aus. Fernab von den Galanterien des Hofes ist Konstantin wieder ein echter Mann. So möchte ich ihn in Erinnerung behalten: scherzend mit den Wachen, die Stiefel voller Staub, im Lampenschein über eine Karte gebeugt, seine Generäle mit Fragen traktierend oder auf seinem weißen Pferd an der Spitze der Kolonne, wenn die Straße unter den stampfenden Schritten des Heeres erbebt. Mag sein, dass die Welt um uns herum zusammenbricht, aber wir marschieren, um sie neu entstehen zu lassen.
    «Rom ist nichts», sagt Konstantin eines Abends, nachdem er gegessen hat und sich in seinem Zelt auf der Liege räkelt. Er ist schlanker geworden, sein Gesicht kantiger. «Nenne mir einen Kaiser der letzten fünfzig Jahre, der länger als einen Monat blieb.»
    Ich nippe an meinem Wein und lächle. Wir beide wissen Bescheid. Es gab keinen. Für eine Hauptstadt liegt Rom viel zu weit von jeder Grenze entfernt. Wir dagegen hatten zeit unseres Lebens die Barbaren vor Augen, ob in Nikomedia, Trier oder York. Die Geschichte hat sich aus Rom zurückgezogen wie ein Ebbestrom, der die Stadt, einem Walfisch gleich, gestrandet liegen lässt; sie bläht sich auf, zuckt und lebt nur noch um ihrer selbst willen. Trotzdem bleibt sie die Königin aller Städte, das Herz der Zivilisation, der Quell imperialer Träume. Ihr Besitz verleiht Macht, die nichts zu tun hat mit der Versorgung von Truppen und Garnisonen.
    «Hegst du Zweifel?», stichele ich.
    «Wir werden Rom einnehmen.» Er ist sich seiner Sache sehr sicher.

Weitere Kostenlose Bücher