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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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das Leder gepresst.
    Und dann hörte sie den Doppler-Effekt der vorbeisausenden Sirene, die schließlich in der Ferne verhallte. Sie war wieder allein.
    Sie erbrach sich über den Ledersitz.

    Der Wagen hielt an. Die Hand zerrte Abby nach draußen. Obwohl sie immer noch die Augenbinde trug, wusste sie, dass die Männer die Innenbeleuchtung eingeschaltet hatten, denn sie fluchten über die Schweinerei auf der Rückbank.
    Ich kann verstehen, was sie sagen , dachte sie. Und es dauerte einen Moment, bis sie dahinterkam, dass sie Serbokroatisch sprachen. Sie schloss die Augen, obwohl das unter der Binde keinen Unterschied machte.
    Mit roher Gewalt stießen sie Abby eine Treppe hinauf und nahmen keine Rücksicht darauf, dass sie, blind, wie sie war, überall aneckte. Auf dem oberen Absatz angelangt, hörte sie Türen auf- und zugehen. Dann schienen sie endlich angekommen zu sein. Eine Hand riss ihr die Augenbinde vom Kopf.
    Auf den ersten Blick wähnte sie sich in einem Museum. Sie stand inmitten eines schwarz gestrichenen, fensterlosen Raums. Silberne Spotlights in der Decke bestrahlten Exponate an den Wänden: Flachreliefs aus weißem Stein, auf denen Götter, Tiere und ineinander verschlungene Pflanzen dargestellt waren. Andere trugen Inschriften. Allen gemein waren abgebrochene Kanten, die darauf schließen ließen, dass man sie von größeren Kunstwerken hastig entfernt hatte. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, eine schwarze Marmorplatte auf Stahlbeinen. Dahinter saß ein schmächtiger Mann mit grauen Haaren, der in seinem wuchtigen Ledersessel noch unscheinbarer wirkte. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Es schien, als wollte er ausgehen. Auf seinem Schoß streichelte er eine Pistole mit verchromtem Griff.
    Er richtete die Pistole auf sie und schmunzelte, als er sie zusammenzucken sah.
    «Abigail Cormac. Wundern Sie sich eigentlich nicht, dass Sie noch leben?»
    Sie starrte ihn an. «Wer sind Sie?»
    Er deutete mit der Waffe im Kreis umher, um auf die Ausstellungsstücke an der Wand hinzuweisen. «Ein Sammler. Ein Händler. Ich kaufe und verkaufe.»
    Sie musterte sein Gesicht, die scharfen Wangenknochen, den kantigen Kiefer, die Augen, die so tief saßen, dass kein Licht an sie herankam. Er war unvergleichlich realer als das verschwommene Foto, das sie in der British Library gesehen hatte. Und Jahre älter. Die Haut war straffer, der Haaransatz zurückgegangen. Er hatte sich einen kleinen, grau gefleckten Bart wachsen lassen. Jene wilde Entschlossenheit aber, die selbst das unscharfe Foto hatte erkennen lassen, war geblieben.
    «Sie sind Zoltán Dragović.»
    Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Die blutleeren Lippen aufeinandergepresst, richtete er die Pistole wieder auf sie und legte an der Seite einen Hebel um. Sie hörte, wie die Männer hinter ihr zur Seite wichen.
    «Wollen Sie mich erschießen?» Nur zu , hätte sie gern schreiend hinzugefügt. Machen Sie dem ganzen Spuk ein Ende! «Warum haben Sie mich hierherbringen lassen?»
    «Um Antworten auf meine Fragen zu bekommen», zischte er. Die Pistole bewegte sich nicht. Der verchromte Griff versprühte reflektiertes Licht über die Wände. «Zum Beispiel: Warum sind Sie nicht schon tot?»
    «Sagen Sie’s mir.»
    «Sie hätten die Bucht von Kotor eigentlich nicht lebend verlassen dürfen. Ich habe einen Mann losgeschickt – sein Name war Sloba. Warum hat er Sie nicht getötet?»
    «Ich erinnere mich an nichts», krächzte sie. Sie hatte schrecklichen Durst und fürchtete, in Ohnmacht zu fallen.
    «Er ist nicht zurückgekommen.»
    «Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist.»
    «Das weiß keiner. Sie werden sagen, vielleicht ist er weggelaufen.» Er hob die Waffe, und es schien, als spräche er mit ihr und nicht mit Abby. «Unmöglich. Meine Männer laufen nicht weg. Denn sie wissen, ich werde sie finden. Er aber ist nirgends aufzutreiben.»
    Abby rieb sich die Augen. Sie hoffte aufzuwachen und diesen Albtraum abschütteln zu können. «Er hat Michael umgebracht. Vor meinen Augen.»
    «Wenn ich Sloba nicht finden kann, muss er tot sein.» Dragović schaukelte in seinem Sessel langsam hin und her wie ein vertäutes Boot. «Halten wir uns mal an die Fakten, Miss Cormac. Sloba fuhr mit einem Auto vor. Als die Polizei kam, stand sein Wagen immer noch vor der Villa.»
    Schau ihm ins Gesicht, nicht auf die Waffe. Das hatte man ihr vor Jahren in einem Kurs zur Vorbereitung auf ihren Einsatz in Kriegsgebieten beigebracht.

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